Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
erkletterte, mein langer Schatten eilte mir voraus. Abdullah erwartete mich wie stets auf dem Gipfel des Felsgrats hinter Deir el-Bahari. Statt mir hilfsbereit seine Hand zu reichen, verharrte er mit verschränkten Armen, sein bärtiges Gesicht grimmig.
»Wird er überleben?« Japsend sank ich auf einen Felsbrocken.
»Dank Gottes großer Güte und der Fähigkeiten von Nur Misur. Du hättest dies verhindern können, Sitt Hakim.«
Seine gnadenlose Äußerung ließ mich wütend hochfahren. »Nein, aber du. Warum hast du mich nicht gewarnt?«
»Die Zukunft hat viele Gesichter. Das Ende ist unbekannt, bis zu seinem Eintritt.« Seine dünnen Lippen verzogen sich spöttisch. »Ich hätte nie für möglich gehalten, dass du dich wie eine ganz normale Frau verhalten kannst, Sitt.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt wissen will, was du damit meinst.«
»Babypflege, Essensvorbereitungen, Bettenmachen, derweil das Böse seine Netze nach dir auswirft.«
Der Pfad hinter ihm, bleich schimmernd in der Morgendämmerung, schlängelte sich entlang der Geröllmassen des Hochplateaus zum Tal der Könige. Auf diesem normalerweise belebten Weg war in meinen Träumen weit und breit keine Menschenseele zu erblicken. Ein Skorpion huschte über einen Stein, sein giftiger Stachel gereckt. Ein langes braunes Etwas, dünn wie ein Rattenschwanz, hinterließ eine gewundene Spur im Sand.
»Wie üblich«, sagte ich bitter, »sprichst du von Gefahren, aber nicht davon, wie sie zu vereiteln sind.«
Abdullah seufzte entrüstet auf. »Das darf ich nicht. Ich habe es dir schon mehrfach erklärt – bei dem Versuch, eine Gefahr zu umgehen, läufst du womöglich geradewegs in eine andere hinein. Du musst es selbst herausfinden. Es gibt ein Handlungsmuster, Sitt. Du wirst es erkennen, wenn du nur willst. Komm«, fuhr er sanfter fort, »lass uns über das Tal blicken.«
Er zog mich zu der Stelle, wo der Pfad steil abfiel. »Die Sonne wird wiedergeboren aus dem Schoß der Nacht«, murmelte er. »Schau, wie das flutende Licht die Welt neu erschafft.«
Die Silhouetten der Berge und Felder, Tempelruinen und Häuser schienen dem Nichts der Nacht zu entspringen. Er versuchte mir etwas mitzuteilen, aber ich war so unsäglich begriffsstutzig. Dennoch hob sich meine gedrückte Stimmung ein wenig. Seine Hand war fest und warm wie die eines Lebenden.
»Dann bist du also ein Poet und ein Heiliger, Abdullah?«
»Ach das.« Abdullah schien geschmeichelt, schüttelte jedoch den Kopf. »Auch das ist ein Teil des Musters, Sitt. Geh jetzt. Sei vorsichtig auf dem Pfad – nicht nur auf diesem, auch auf dem, dem du folgen musst.«
Er begleitete mich nie, nicht einmal ein paar Schritte. Sein Weg führte immer nach Westen.
Tags darauf mochte nicht einmal Emerson an Arbeit denken. Wir hatten kaum geschlafen; keiner fand zur Ruhe, bis ich mit der Nachricht heimkam, dass Selim die Operation überlebt habe. Mehr vermochte ich zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen. Nefret, die die ganze Nacht bei ihm wachte, tauchte zum Frühstück auf und berichtete, dass er etwas zu sich genommen habe und auf dem Weg der Besserung sei.
»Ich muss zurück«, fuhr sie nach einem entsetzten Blick auf den voll geladenen Teller fort, den Fatima ihr hinschob. »Kadija ist jetzt bei ihm, aber …«
»Iss etwas und ruh dich aus«, sagte ich entschieden. »Du kannst es dir nicht leisten, krank zu werden. Kadija und ich werden nach ihm sehen.«
»Er wird doch wieder gesund, oder?«, fragte Sennia, ihre dunklen Augen voller Tragik.
»Ja«, erwiderte ich.
»Er würde es nicht wagen zu sterben, wo doch deine Tante Amelia und Nefret sich um ihn kümmern.« Sethos hatte eben den Raum betreten, nach ein paar Stunden Schlaf auf der Dahabije. Er tätschelte Sennias schwarzen Lockenkopf, spähte zu seiner Tochter und nickte ihr augenzwinkernd zu.
Ich legte meine Serviette auf den Tisch und erhob mich. »Ich gehe jetzt zu Selim. Ruh dich ein bisschen aus, Nefret. Ich werde dich umgehend informieren, wenn eine Veränderung eintritt. Auf mich kannst du dich doch immer verlassen, nicht wahr?«
»Ja, Mutter.«
»Ihr anderen beschäftigt euch sinnvoll.«
»Ja, Mutter«, sagte Ramses.
»Und du, Emerson«, begann ich.
»Ja, Peabody«, sagte Emerson mit einem Hauch von Ironie. »Bist du sicher, du kannst dich auf mich verlassen, wenn ich Ermittlungen ohne deine Assistenz durchführe?«
»In diesem Fall«, räumte ich ein, »bist du vermutlich besser qualifiziert als ich.«
»Gute Güte«,
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