Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
seufzte Emerson. »Vermutlich?«
Aus Manuskript H
Am Vorabend waren sie zu aufgewühlt gewesen, um die Ursachen für den Unfall zu erörtern. Außerdem wäre jede Spekulation unproduktiv verlaufen, solange sie keine Fakten hatten, und das Autowrack ließe sich bei Tageslicht allemal besser inspizieren.
Letztlich ritten sie zu sechst nach Kurna. Walter wollte sie unbedingt begleiten – obwohl er laut Ramses sehr wenig von Automobilen verstand –, und Bertie tauchte bei ihrem Aufbruch auf, um seine Hilfe anzubieten. Sie schauten kurz bei Selims Frauen vorbei, die bei den üblichen Gesten der Gastfreundschaft gefasster wirkten als von Ramses erwartet. Sie wussten, dass Selim die Operation überstanden hatte.
»Die Sitt Hakim hat Daoud mit der Nachricht zu uns geschickt«, erklärte eine von ihnen.
Selbstverständlich, überlegte Ramses, hatte sie daran gedacht. Er nicht.
Schuldbewusst versetzte er: »Heute Morgen ging es ihm schon viel besser. Sie meint, dass er wieder gesund wird.«
Daran hatten sie nie gezweifelt. Nicht bei den magischen Kräften der Sitt Hakim. Nur Misur war ihnen lieb und teuer, aber ein bisschen Zauberei konnte nie schaden.
Das halbe Dorf folgte ihnen zu der Unfallstelle. Wie von Emerson befohlen, hatten sie nichts angerührt.
Bei strahlendem Sonnenschein sah das lädierte Automobil noch schlimmer aus als in der nächtlichen Dunkelheit. Es war linkerhand vom Weg abgekommen, zur Seite gekippt und gerutscht, bevor es sich überschlug und vor den Felskamm prallte. Ohne diesen abbremsenden Widerstand wäre es in die Schlucht gerollt – und Selim vermutlich nicht mehr lebend herausgekommen.
Die linke Seite des Automobils war am stärksten beschädigt: die Tür hing in den Scharnieren, die Windschutzscheibe war zerborsten. Ein Rad fehlte; die Holzspeichen eines anderen waren gesplittert, der Reifen platt. Der Kühler war verbeult, der Benzintank abgerissen. Inzwischen war sämtlicher Kraftstoff entwichen, der Gestank hing noch in der Luft.
»Hier oben ist das Rad«, rief David den Hügel hinunter. Sie kraxelten zu ihm. Emerson maß das Gelände mit Adleraugen, Entfernung und Neigungswinkel abschätzend.
»Wenn es sich aufgrund der Geschwindigkeit gelöst hätte, läge es unter dem Wagen oder weiter unten im Tal«, knurrte er.
»Die Reifenmuttern fehlen«, sagte Ramses. »Alle sechs.« Obwohl er damit gerechnet hatte, war ihm leicht übel. »Sie müssen vorsätzlich gelockert worden sein. Das Automobil geriet ins Schleudern, als sich das Rad verselbstständigte.«
»Also war es kein Unfall?« Bertie sah so schlecht aus, wie Ramses sich fühlte.
»Mit Sicherheit nicht«, erwiderte Emerson grimmig. »Selim ist ein erstklassiger Mechaniker, und er hat das verdammte Ding hervorragend in Schuss gehalten.« Ein Raunen ging durch die Umstehenden. Einige verstanden Englisch; sie übersetzten es den anderen. Eine schlanke, schwarz gekleidete Frau nahm ihr spielendes Kind auf den Arm. Einer der Männer zündete sich eine Zigarette an. Ansonsten rührte sich keiner. Dunkle Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen, während sie das Gefährt genauestens inspizierten. Für Emerson stand fest, dass nur ein Mann die Bolzen hätte lösen können. Ramses war sich da nicht so sicher; eine Frau, die mit einem Schraubenschlüssel umzugehen wusste und etwas von Autos verstand, hätte dies ebenso gut vermocht.
»Wann ist es passiert?«, fragte er.
Emerson fingerte an seinem Kinngrübchen herum. »Wir haben das Rad vorgestern gewechselt. Vorne rechts – nicht dieses hier. Es muss noch in der Nacht passiert sein. Wenn ich das verfluchte Automobil in den Hof gestellt hätte, wie deine Mutter mich ständig bekniet …«
Die Falten um seinen Mund gruben sich tiefer ein. »Das hätte nichts geändert«, murmelte Ramses. »Der Hof ist leicht zugänglich, und Ali schläft wie ein Toter. Um die Radmuttern zu lösen, braucht man nur ein paar Minuten.«
»Er – oder wer immer es war – hat darauf gehofft, dass das Rad abspringt, sobald Selim die steile Steigung hochfährt«, sinnierte Sethos.
»Das Fahrzeug wäre auf jeden Fall gekippt, sobald es ein Rad verlor«, wandte Ramses ein. »An welcher Stelle auch immer. Selim musste nur genug Gas geben, und anders geht es in diesem holprigen Gelände gar nicht.«
»Korrekt. Aber der Schaden, den Selim und das Automobil genommen haben, wäre erheblich geringer gewesen, wenn es auf ebener Straße passiert wäre. Es war reine Glücksache – falls eine Tötungsabsicht
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