Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
Emerson milde. »Ich nehme an, er hat es abgestritten.«
»Nein, Sir, das hat er nicht.« Sie heftete den Blick auf ihn. »Er hat grässliche Dinge über Ramses und Sie gesagt. Er hasst Sie.«
»Keine Sorge«, lachte Emerson. »Wenn der sich hier blicken lässt, mach ich ihn fertig.«
»Das wird er nicht tun. Sie hat ihm ernsthaft ins Gewissen geredet – dass er die Stelle verliert, wenn er so etwas wieder macht. Es wäre die schlimmste Strafe für ihn, von Justin getrennt zu werden.«
»Trotzdem werden wir Acht geben müssen«, erklärte ich.
»Nicht mehr lange«, wandte Maryam ein. »In ein paar Tagen werden sie nach Kairo segeln. Justin geht es nicht gut.«
Emerson hatte so gehofft, sich mit François anlegen zu können, doch die nächsten beiden Tage verliefen vollkommen ruhig. Der Schatz war transportbereit verpackt, ausgenommen die Stücke, die ich zurückgehalten hatte, sodass ich Emerson besänftigte, indem ich meine Gehilfen wieder ihm überließ und gestattete, dass er mit der Exkavation weitermachte.
Die Entdeckung mehrerer hübscher Votivstatuen und -stelen, die frühere Exkavatoren übersehen hatten, ermöglichte es ihm, einige Mauerfundamente einem Schrein aus der achtzehnten Dynastie zuzuordnen, und Bertie stellte den Grundriss des Tempels von Amenophis I. fertig. Bei der Freilegung eines Kellers in dem Dorf stieß Ramses auf weitere Ostraka. Er übersetzte uns eines der aufschlussreichsten Täfelchen während der Mittagspause.
»Es fällt in die so genannte Kategorie ›Briefe an die Toten‹«, führte er aus. »Dies hier scheint von einem Witwer an seine verstorbene Frau gerichtet zu sein. An die selige Baketamon: Was habe ich getan, dass du mir Böses willst? Ich habe dich zur Frau genommen, ich habe dich nicht verstoßen, ich habe dir viele schöne Dinge geschenkt, und als du krank wurdest, habe ich den besten Arzt für dich bestellt; ich habe dich in feines Leinen gehüllt und dir ein feierliches Begräbnis ausgerichtet, und seither habe ich keine andere Frau angerührt, obschon es das Recht eines jeden Mannes ist. Und doch suchst du mich heim und bringst Unheil über mich! «
»Sagt er, was für ein Unheil?«, forschte Nefret, ihre Arme um ihre angewinkelten Knie geschlungen. »Nein. Vermutlich hatte er eine Pechsträhne.«
»Ts, und ihr dann die Schuld zuschieben«, lachte Lia.
»Sag jetzt nichts, Tante Amelia.«
»›Typisch Mann‹, meinst du? Diesen Lapsus begehen beide Geschlechter und sämtliche Kulturen«, räumte ich freimütig ein. »Es ist tröstlich, etwas Negatives übernatürlichem Einfluss zuzuschreiben, weil man hofft, dies mit magischen Kräften abzuwenden, statt es als unvermeidlich zu akzeptieren.«
»Oder als eigenen Fehler«, sagte Lia. »Nach meiner Ansicht hätte er niemals so auf der Ärmsten herumgehackt, wenn er sich keiner Schuld bewusst gewesen wäre.
Aber das würde er natürlich nicht zugeben.«
»Das konnte er nicht«, versetzte Ramses, das Fragment behutsam in ein wattiertes Kästchen legend. »Er sagt weiter, dass er vor dem Tribunal der Götter Beschwerde gegen sie einlegen wird. Folglich ist es eine formelle Anklage – gewissermaßen ein rechtsgültiges Dokument.«
»Womöglich wollte er Schadensersatz einklagen«, grinste Bertie. »Man darf schließlich nicht erwarten, dass er gegen sich selber aussagt.«
Emerson, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte, scheuchte alle wieder an die Arbeit.
Dank langjähriger Erfahrung musste ich mich auf das Sieben des Gerölls nicht sonderlich konzentrieren. Der werte Leser wird den Tenor meiner abschweifenden Gedanken gewiss erahnen. Weniger sensible Menschen hätten sich nach der relativ ruhigen Zeitspanne, die ohne einen einzigen unangenehmen Zwischenfall verlief, in Sicherheit gewähnt. Für mich war dies im höchsten Maße verdächtig – die Ruhe vor dem Sturm. Irgendetwas braute sich da zusammen. Doch obschon ich die uns bekannten Fakten wieder und wieder durchging, blieb mir der Zu sammenhang verschlossen.
Eines Abends, als ich keinen zum Plaudern fand, zog ich mich in mein eigenes kleines Reich zurück. Die müden Gehilfen hatten sich zerstreut, Walter und Evelyn waren im Schloss, die anderen in ihren Zimmern, Emerson in seinem Büro. Auf meinem Schreibtisch türmte sich die Arbeit, darunter meine eigenen Exkavationsnotizen, da fiel mein Blick auf die dreiseitige Übersetzung, die Ramses von Walters Horoskop-Papyrus angefertigt hatte. Sie begann mit jenem denkwürdigen Eintrag über Die Kinder
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