Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
herumlaufen, und bis du deine Schuhe gefunden hast, ist Nefret auch wach.«
»Sie ist wach. Heißt das, dass ich auch ihr nichts davon sagen soll? Sieh mal, Mutter …«
»Erst mal nicht«, wehrte ich ab und machte kehrt, ehe er reagieren konnte.
Die meisten Öllampen auf dem Pfad waren heruntergebrannt. Alles schien viel dunkler als auf dem Hinweg.
Etwas raschelte im Gebüsch. Vermutlich eine unserer Katzen, gleichwohl muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich Fersengeld gab.
Gegen drei Uhr in der Frühe weckte mich ein Rascheln am Fenstersims. Emerson rührte sich nicht; er schläft wie ein Toter. Ich vergewisserte mich, dass mein Nachthemd schicklich zugeknöpft war, dann ging ich zum Fenster und lehnte mich hinaus. Wir lassen im Hof immer eine Lampe brennen. In ihrem Lichtschein erkannte ich meinen hoch aufgeschossenen Sohn. Seine Haltung verriet eine gewisse Anspannung.
»Du erinnerst dich wieder?«, flüsterte ich.
»Ja, es ist mir eingefallen«, murmelte Ramses tonlos, »als ich an etwas völlig anderes dachte. Der Ort liegt ungefähr dreißig Meilen von hier, am Westufer. Schätze, meine Frage erübrigt sich …«
»Morgen erfährst du alles Wissenswerte. Ich möchte, dass du mich begleitest. Und kein Wort zu Vater.«
»Und Nefret?«
»Nein.«
Ich blinzelte über meine Schulter. Emerson hatte sich umgedreht und murmelte im Schlaf. Wenn er nach mir tastet und ich bin nicht da, wird er böse. »Ich kümmere mich um alles«, zischte ich. »Geh jetzt, dein Vater wird wach.«
Emerson setzte sich auf. »Peabody!«, brüllte er. Ramses verschwand in der Dunkelheit.
Es war nicht einfach, sich davonzustehlen, ohne dass Emerson etwas bemerkte. Ich bewerkstelligte dies, indem ich ihm großzügig erklärte, er könne Lia und David als Assistenten mitnehmen.
Emerson sagte: »Ramses …«, und ich: »Er hat mir versprochen, heute Morgen eine Übersetzung für mich abzuschließen. Wir kommen später nach.«
Emerson gab sich damit zufrieden und scheuchte Lia und David gleich nach dem Frühstück aus dem Haus. Nefret und Maryam waren nicht am Frühstückstisch. Ich nahm an, dass Nefret bei einem Patienten sei, wo Maryam herumstromerte, kümmerte mich nicht, solange sie mir nicht in die Quere käme. Ramses und ich trugen Arbeitskluft, damit wir uns nachher nicht umziehen mussten. Bevor wir das Haus verließen, entschied ich mich für einen besonders massiven Sonnenschirm.
Ich hatte den Bahnhof seit der Explosion nicht mehr aufgesucht und war verblüfft über das geringe Schadensausmaß. Alles war wie gehabt. Man erkannte uns, und wir mussten einige neugierige Fragen beantworten und uns den neuesten Klatsch anhören. Wie üblich hatte der Zug eine Stunde Verspätung. Es war ein Nahverkehrszug, nur mit Zweiter- und Dritter-Klasse-Abteilen; als Ramses mir in eines der Ersteren half, nahm ich auf dem Bahnsteig ein vertrautes Gesicht wahr. Als Dr. Khattab meinen Blick bemerkte, zog er seinen Fez, legte eine seiner Wursthände an die bestickte Weste und verneigte sich. Da er nicht einstieg, folgerte ich, dass er jemanden erwartete.
Die altertümlichen Wagons ratterten und rumpelten über die Gleise, feiner Sandstaub wirbelte durch das offene Fenster herein. Ramses legte stützend einen Arm um mich und reichte mir ein Taschentuch.
»Du hast dein Messer nicht dabei«, hob ich an. »Rechnest du mit Schwierigkeiten? Das hättest du mir sagen müssen.«
»Ich rechne nicht damit, trotzdem sollte man immer auf das Schlimmste vorbereitet sein. Keine Sorge, ich habe meinen Utensiliengürtel und meinen Schirm.«
»Das sollte reichen«, bekräftigte Ramses. »Du hast allen geschildert, wo wir hinfahren?«
»Sogar deinem Vater habe ich eine Nachricht hinterlassen. Sollten wir nicht zurückkehren …«
»Himmeldonnerwetter, Mutter!« Der Zug blieb mit einem Ruck stehen. Ich taumelte vornüber, und er hielt mich fest. »Entschuldigung. Willst du mich jetzt endlich aufklären?«
In der morgendlichen Kühle ließ mich meine brillante Inspiration im Stich. Ich bereute schon fast, einen ganzen Tag mit meiner abstrusen Idee vertrödeln zu müssen, während ich auf dem verflucht harten Sitz auf und nieder hopste. »Zu gegebener Zeit wird dir alles einleuchten«, sagte ich und betete im Stillen, mir möge es ebenso ergehen.
Ramses entfuhr noch ein unschöner Kommentar. Diesmal entschuldigte er sich nicht.
Aus der Ferne wirkte das Dorf geradezu malerisch, eingebettet in einen Palmenhain, ein hübsches Minarett lugte durch
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