Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
verkörpert, aber nur, weil Justin in den Augen der Emersons nicht ganz normal gewesen war. Kein Wunder, dass sie derart heftig auf Berührungen reagiert hatte. Sie mochte sich die Brüste abbinden und legere Jungenkleidung tragen, ihr Körper blieb der einer Frau.
»Aber das steht jetzt außer Frage«, sagte Justin schroff. »Dieselben Zeugen sahen Sie und den Professor an Bord gehen; sie hatten ihm berichtet, Sie seien hier, und er schien entschlossen, das Schiff in seine Einzelteile zu zerlegen, um Sie zu finden. Uns blieb keine Wahl, als unsere Abreise vorzuziehen und Sie beide mitzunehmen.« Sie seufzte. »Die arme Maryam. Sie kann jetzt nicht mehr zurück und die Unschuldige spielen.«
»Wo ist sie?«, forschte Nefret.
»Schmollt in ihrer Kabine. Sie nörgelt an allem rum«, versetzte Justin gehässig.
Nefrets Blick glitt zum Fenster. Es ging aufs Deck hinaus. Die Läden waren geöffnet. Sie gewahrte Sterne und, gar nicht so weit entfernt, die dunklen Umrisse vom Festland. Die Vorstellung, Emerson zurückzulassen, behagte ihr zwar nicht, aber wenn sie an Deck gelangen könnte …
Nefret machte einen Satz zu dem Bullauge. Immer noch recht wacklig auf den Beinen, war es eher ein Stolpern. Augenblicklich stürzte François sich auf sie, drehte ihr die Arme auf den Rücken und hielt sie fest.
Nefret schüttelte sich das wirre Haar aus der Stirn. Es war demütigend, wie eine Vogelscheuche auszusehen. Das wusste auch die Frau, die sich auf dem Sofa aalte; lächelnd streichelte sie über ihren Körper. Sie war eine sehr hübsche Frau mit ihren kurzen goldblonden Locken und der jugendlich schlanken Figur.
Nefret konnte nicht anders, sie musste es wissen. »Warum haben Sie Ramses gefangen genommen? Was hätten Sie mit ihm angestellt, wenn er nicht entkommen wäre?«
»Es war nur ein Test, um zu sehen, wie gut meine Leute arbeiten.« Justin streckte sich wie eine Katze. »Und ich war neugierig, was Maryam an ihm finden könnte. Dann … tja … hab ich es gesehen. Ich dachte, es würde Spaß machen, wenn er mich verführt.«
»Sie sind von Sinnen«, zischte Nefret. »Das hätten Sie nie geschafft.«
»Oh doch, wenn ich etwas mehr Zeit gehabt hätte. Ich habe richtig darauf gefiebert. Ich liebe die Männer, und er ist ein besonders attraktives Exemplar – in jeder Hinsicht. Maryam hat für dergleichen kein Gespür. Sie hat diesen blöden Amerikaner nur geheiratet, weil sie sein Geld wollte. Sie denkt, dass sie verliebt ist.« Aus ihrer Stimme sprach tiefer Abscheu.
»Waren Sie denn nie verliebt?«, erkundigte sich Nefret. Sie verfolgte einen der innerfamiliären Grundsätze: Lass dein Gegenüber reden und achte auf jeden Lapsus, jede Nachlässigkeit. Man weiß nie, wie sich die Dinge entwickeln! Außerdem lag eine grässliche Faszination in dem Gespräch. Eine Frau wie Justin war ihr noch nie begegnet. Aber, fiel Nefret ein, ich habe Bertha nicht kennen gelernt.
»Verliebt?« Die hübschen Lippen verzogen sich spöttisch. »Ich wollte ihn und ich hätte ihn rumgekriegt, wenn er sich nicht abgesetzt hätte. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Für gewöhnlich bekomme ich, was ich mir in den Kopf gesetzt habe – schätze, er ist zu allem bereit, wenn ich Ihnen nur nichts tue.«
»Von wegen«, fauchte Nefret. »Und Sie wären verrückt, ihn an sich heranzulassen, wenn er wütend ist.«
»Was sind Sie doch naiv«, murmelte Justin. »Es gibt da gewisse Tricks … und ich kenne die meisten.« Sie quälte ihre Gefangene gnadenlos. Nefret schluckte, eine Übelkeit stieg in ihr auf. »Was wollen Sie mit uns machen?«, versetzte sie.
»Erst mal nichts«, lautete die lapidare Antwort. »Vielleicht brauchen wir Sie noch.«
»Wofür?«
»Abwarten und Tee trinken.« Lachend setzte sich Justin auf und klatschte in die Hände. »Möchten Sie sich nicht ein bisschen frisch machen vor dem Abendessen?« Der Raum, in den François sie brachte, war eine Verbesserung gegenüber dem vorherigen. Die Fensterläden waren geschlossen und von außen vernagelt, doch die Spalten zwischen den Holzlatten ließen frische Luft herein. Es gab ein Bett und ein Waschbassin und daneben sogar eine Lampe. Ein eher provisorisches Gefängnis, gleichwohl hatten sie nichts zurückgelassen, was sich als Waffe oder Werkzeug geeignet hätte. Bett und Bassin waren am Boden fest geschraubt; sie hatten sogar den massiven Holzriegel auf der Innenseite der Läden entfernt.
Energisch durch die Kajüte stapfend, sah Nefret in den Schrank über dem
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