Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
als sie sah, dass er nicht allein gekommen war. Sie war sich noch nicht schlüssig, welche Rolle er in dem Ganzen spielte, vielleicht war er nur ein wehrloses Opfer. François hingegen musste einer von ihnen sein. Hämisch grinsend griff er nach ihr. Nefret rappelte sich auf und stieß seine Hand weg.
»Wie Sie wollen«, sagte Justin. »Kommen Sie mit.«
Nefret folgte ihm durch den Gang in den Salon, François dicht hinter ihr. Mit einem zuckersüßen Lächeln bot Justin ihr einen Stuhl, und Nefret sank dankbar darauf. Tee stand auf dem Tisch, ein hübsches Silberservice, indes war außer ihr und dem Jungen und seinem Begleiter niemand im Raum. Ihr Blick wanderte zum Fenster. Draußen war es dunkel. Und das Schiff hatte angehalten.
»Trinken Sie Ihren Tee.« Justin goss ihr ein. »Sie müssen doch großen Durst haben.«
Etwas an seiner Gestik ließ Nefret aufmerken. Sie beobachtete ihn, wie er in den Diwankissen lehnte, eine Hand hinter dem Kopf, die andere anmutig ausgestreckt.
»Wer sind Sie?«, wollte sie wissen.
Das helle Lachen, höher noch als Justins, half ihr auf die Sprünge. Mein Gott, wieso habe ich das nicht eher gemerkt?, überlegte sie. »Seine« Jacke war offen, und das dünne Hemd spannte über den jetzt unkaschierten weiblichen Rundungen.
»Wie ich heiße, meinen Sie? Ich habe viele Namen. Nennen Sie mich ruhig weiter Justin. Das klingt irgendwie nach Justiz, und genau die werde ich ausüben.«
Nefret schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum tun Sie das? Was wollen Sie von uns?«
»Gerechtigkeit. Für eine Tote und ihre Kinder. Na was denn?«, meinte sie ungnädig, als Nefret sie mit offenem Mund anstarrte. »So dumm können Sie doch nicht sein. Ihre Familie hat meine Mutter umgebracht und mich gnadenlos dem Hungertod ausgeliefert, hätten ihre Freunde und meine eigenen Begabungen mich nicht davor bewahrt.«
»Ihre Mutter«, wiederholte Nefret. Sie hob die Tasse an die Lippen und verbrannte sich an dem kochend heißen Tee die Zunge. »Wer …?«
»Dreimal dürfen Sie raten. Wie viele Frauen hat Ihre glorreiche Familie denn auf dem Gewissen?«
»Keine. Nicht einmal … Ach du Schreck«, japste Nefret. »Bertha? Sie sind ihr Kind? Aber … aber das ist unfair, wir wussten nichts von Ihrer Existenz. Mutter und Vater hätten Ihnen geholfen. Sie würden Ihnen auch jetzt helfen.«
»Ich brauche keine Hilfe. Was ich will, nehme ich mir sowieso, ich brauche keine Almosen.«
Nefret fehlten die Worte. Darauf wäre sie nicht im Traum gekommen. Sie schlürfte den Tee, spielte auf Zeit, bis sie sich wieder gefasst hatte. »Was haben Sie mit dem Professor gemacht?«
»Kaum der Rede wert.« François war neben seine … Geliebte getreten. Sein verschlagenes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Wir haben ihn lediglich angekettet und eingesperrt. Sie wollte nicht, dass ich ihn …«
»Hab ich gesagt, dass du antworten sollst?« Die schrille Stimme schmerzte in den Ohren. François schrak zusammen, sank auf die Knie und murmelte Entschuldigungen.
»Obwohl er es verdient hätte«, fuhr Justin fort, ihren untröstlichen Fußabtreter ignorierend. »Er hat unsere Pläne komplett über den Haufen geworfen. Möchten Sie wissen, was wir vorhatten? François, wo sind deine Manieren geblieben? Biete unserem Gast etwas Gebäck an.«
»Ich hab keinen Hunger«, entgegnete Nefret. »Erzählen Sie.«
Justin lehnte sich zurück in die Kissen, die Hände hinter dem Kopf, der Busen gestrafft.
»Hathor«, murmelte Nefret ungläubig.
»Beide Male, ja. Sie haben Maryam verdächtigt, nicht? Ich habe es für sie gemacht. Sie wollte Ihren Mann. Wenn der Professor heute nicht dazwischengefunkt wäre, hätte sie ihn bekommen.«
»Niemals«, sagte Nefret fest.
»Oh, ich denke, ihre Chancen standen gut. Verstehen Sie, unser ursprünglicher Plan sah vor, Sie aufs Schiff zu locken, und dann wäre ich in Ihrer Kleidung von Bord gegangen und schnurstracks in den Gassen von Luxor verschwunden. Bei meiner Rückkehr hätte ich wieder meine eigenen Sachen getragen. Wenn Ihre Freunde schließlich nach Ihnen gefragt hätten, wäre die Isis längst fort gewesen, und unzählige gaffende Zeugen hätten geschworen, Sie hätten das Hausboot verlassen.«
Während Nefret ihr Gegenüber musterte, fiel ihr wieder ein, was Ramses irgendwann über die Kunst der Tarnung gesagt hatte. Es waren weniger die optischen Veränderungen als vielmehr Verhalten und Gestik, Sprache und Bewegung. Sie hatte die Jungenrolle überzeugend
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