Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
zu geraten, gleichwohl waren sie entscheidend für den Fall. Evelyn und David hatten ihre Hoffnung, ihren Zweifel angedeutet, das musste den anderen doch aufgefallen sein. Schwierig, sich dieses fröhliche junge Mädchen als Mörderin vorzustellen.
»Es ist wichtig, dass wir uns alle im Klaren darüber sind, gegen wen wir da eigentlich vorgehen«, fuhr ich fort. »Und das ist nicht etwa eine – ähm – verwirrte junge Frau mit einer Bande von Auftragsmördern. In diese Geschichte ist wenigstens noch eine andere Person verwickelt, durch und durch kriminell, hat sie dasselbe Motiv wie Maryam. Maryam ist nicht Berthas einziges Kind.«
Zum ersten Mal in unserer langjährigen Bekanntschaft verlor Sethos die Fassung. Er wurde schneeweiß im Gesicht. »Nein«, sagte er rau. »Nein. Nicht noch eins … Wer hat euch das erzählt?«
»El-Gharbi«, erwiderte Ramses. »Wir waren heute in dem Dorf, in das man ihn verbannt hat. Mutter erinnerte sich an etwas, was er irgendwann einmal gesagt hat … dass auch die junge Schlange Giftzähne habe. Wieso sie das nicht schon früher erwähnte …«
»Schlichtweg vergessen«, gestand ich. »Es war so vage, wie die Weissagungen von Nostradamus, die sich auf unterschiedlichste Weise auslegen lassen. Seinerzeit hatten wir mit diesem fürchterlichen Burschen Jamil zu tun, auf den diese Umschreibung genauso gepasst hätte. Emerson wusste ebenfalls davon, aber auch er hat die Warnung vergessen oder verdrängt. Erst gestern Abend, als ich allmählich das Handlungsmuster durchschaute, fiel mir ein, dass el-Gharbi uns unbekannte Informationen haben könnte.«
»Ihr hättet uns einweihen sollen«, sagte Evelyn vorwurfsvoll.
»Hinterher ist man immer schlauer«, seufzte David. »Ich möchte mehr über dieses zweite Kind wissen.«
Lia schrie auf. »Justin. Ist es Justin? Aber er ist jünger als Maryam, er kann höchstens vierzehn sein. Er …«
»Er«, erklärte ich, »ist eine junge Frau. Die zierliche Statur, das bartlose Gesicht, die hohe Stimme hätten uns gleich zu denken geben müssen. Sie war um die Zwanzig, als el-Gharbi in Kairo auf sie traf. In einem der – ähm – exklusiveren Bordelle, das sich im Besitz einer älteren Frau befand, einer Europäerin, die ihre Finger in diversen illegalen Geschäften hatte. Sie und el-Gharbi kamen sich nie in die Quere, sie beackerten sozusagen unterschiedliches Terrain, gleichwohl wusste er um ihre Aktivitäten. Zu ihren Kunden zählten ranghohe Offiziere und steinreiche Touristen. Justin war ihr Schützling und kompetenter Assistent bei sämtlichen Gesetzesübertretungen, von Drogen bis Mord.«
»Also nicht meins«, flüsterte Sethos. »Nicht mein Kind.«
Da ich seine Gefühle nachvollziehen konnte, klärte ich ihn gänzlich auf.
»Laut el-Gharbi war ihr Vater ein Engländer namens Vincey, also der Mann, mit dem Bertha einige Jahre zusammenlebte, bis wir ihn unschädlich machten und sie mit dir anbandelte. Nein. Du bist nicht ihr Vater. Sie und Maryam sind Halbschwestern. Wie die Sache zustande kam, entzieht sich meiner Kenntnis, aber Justin ist zweifellos die Anführerin. Sie ist die Ältere, und, anders als Maryam, zeitlebens mit Kriminellen zusammen gewesen.«
»Das entlastet Maryam keineswegs«, sagte Sethos. Einmal abgesehen von den Schweißperlen auf seiner Stirn hätte er von einer Fremden sprechen können. »Sie hat von Anfang an bereitwillig mitgemacht. Der Angriff auf sie war gestellt; das Ergebnis war, dass Ramses sie ›rettete‹ und zu dir gebracht hat – mit ihrer wohl dosierten Zurückhaltung hat sie sich dein Mitgefühl erschlichen. Sie hat dir nachspioniert und den anderen Bericht erstattet.«
»Vielleicht hat man sie unter Druck gesetzt«, gab Evelyn zu bedenken.
»Gib’s auf, Evelyn«, sagte Sethos. »Sie ist das Kind ihrer Mutter – und leider Gottes auch meins.«
13. Kapitel
Aus Manuskript H
Der Junge war nicht krank. Sie hätte gleich erkennen müssen, dass es eine Falle war. Er suchte die schlingernden Schiffsbewegungen auszubalancieren, und sein Gesicht war so hübsch und ausdruckslos wie das einer Puppe.
»Haben Sie etwa wie ein Hund das Wasser aufgeleckt?«, fragte Justin.
Der Klang seiner Stimme ließ bei Nefret sämtliche Alarmglocken schrillen. Sie versuchte zu sprechen, doch entwich ihr lediglich ein Krächzlaut.
»Eine schöne Tasse Tee ist jetzt genau das Richtige für Sie«, sagte Justin aufgeräumt. »Können Sie gehen, oder soll François Sie tragen?«
Der letzte Hoffnungsschimmer verblasste,
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