Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
anrührte, steckten wir die Köpfe zusammen. Cyrus’ erster Gedanke, umgehend der Kairoer Polizei zu telegrafieren, schien der logische nächste Schritt; gleichwohl sah ich mich genötigt, auf die Nachteile hinzuweisen.
»Wenn Martinelli etwas von seinem früheren Auftraggeber gelernt hat, der, wie wir alle wissen, ein Meister der Verstellung …«
»Ja, das wissen wir«, knurrte Emerson. »Bitte, halt uns keinen langatmigen Vortrag, Peabody. Der Dreckskerl mag sein Aussehen verändert haben, trotzdem sollten wir es wenigstens versuchen.« Wütend biss er in ein Brötchen.
Während seiner Tirade löffelte ich meine Suppe. Sinnlos, sich von derartigen Petitessen den Appetit verderben zu lassen.
»Ganz meine Meinung«, pflichtete Ramses bei. »Wir können von Glück reden, dass wir den stellvertretenden Polizeikommandanten gut kennen. Russell wird auch ohne ausführliche Erklärung auf unser Gesuch reagieren.«
»Was, wenn er den Schmuck findet?«, erkundigte sich Cyrus.
»Dann bekommen wir ihn zurück«, erwiderte ich. »Nein, Emerson, jetzt halt du uns keinen langatmigen Vortrag. Russell hat uns viel zu verdanken – genauer gesagt Ramses, für seine Unterstützung der Polizei und des Militärs während des Krieges –, und vielleicht kommen wir aus dieser Sache heraus, ohne dass der Name Sethos Erwähnung findet. Das heißt, wenn Russell Martinelli schnappen kann, was ich für unwahrscheinlich halte.«
Emerson hatte in null Komma nichts sein Essen heruntergeschlungen. Jetzt schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ich gehe zum Telegrafenamt.«
»Wie viele Telegramme willst du denn verschicken?«, bohrte ich.
Er sah auf mich hinunter. »Zwei. Vielleicht drei.«
Ich seufzte. »Das lässt sich wohl nicht vermeiden. Hast du die Anschriften?«
Emerson nickte knapp und wandte sich ab.
»Mhm.« Cyrus strich sich über den Spitzbart. »Wer sind denn die anderen Empfänger?«
»Dreimal dürfen Sie raten«, schmunzelte Nefret.
»Ich kann es mir vorstellen. Sollen wir uns zu Kaffee und konspirativer Kommunikation auf die Terrasse zurückziehen?«
Es war ein warmer, sonniger Tag. Die beiden Terrassen des Winter Palace, erreichbar über eine geschwungene Freitreppe, lagen hoch genug, dass uns der aufgewirbelte Straßenstaub nicht störte, die Nachmittagssonne funkelte auf dem Fluss. Touristen kehrten von ihren morgendlichen Ausflügen zurück. Cyrus kramte sein Rauchwarenetui hervor und zündete sich ein Zigarillo an. Wein- und Tabakgenuss hatten ihn entspannt, und sein scharfer Verstand arbeitete wieder auf Hochtouren. Leider, kann ich nur sagen. Immerhin hatten wir Cyrus jahrelang so manche persönliche und berufliche Angelegenheit verschwiegen. Unsere Mitverantwortung an seinem derzeitigen Dilemma machte es jedoch unmöglich, ihm die Wahrheit vorzuenthalten. Wie dem auch sei, wir würden ohnehin genug Probleme mit den Lügen haben, die wir Russell und/oder Lacau auftischen müssten.
»Dann ist Ihre Verbindung zu dem alten Gauner, dem Meisterverbrecher, also nicht abgebrochen?«, erkundigte sich Cyrus. »Sie kennen sogar seine aktuelle Adresse. Wo zum Teufel steckt er denn?«
»Ich bin mir nicht sicher, wo er sich momentan aufhält«, gestand ich. »Er hat ein Haus in Cornwall und ein Appartement in London, aber er reist viel herum.«
»Darauf möchte ich wetten«, murmelte Cyrus. »Nichts für ungut, Amelia, aber verflixt – wer verbirgt sich eigentlich dahinter?«
Ich sah zu meinen Kindern, die Händchen haltend zusammensaßen. Ramses’ Brauen schnellten ironisch fragend nach oben. »Willst du unseren Rat hören, Mutter?«
»Ach komm schon«, unterbrach ihn Nefret. »Wir können Cyrus voll und ganz vertrauen, und ich habe diese Geheimniskrämerei satt. Ich bin dafür, dass wir ihm alles erzählen.«
»Schnell, bevor Vater zurückkommt«, setzte Ramses hinzu.
Da ich der gleichen Ansicht war, übernahm ich das Reden. Cyrus wusste um Sethos’ kriminelle Vergangenheit, da er einige unserer Auseinandersetzungen mit unserem früheren Gegenspieler hautnah erlebt hatte. Dessen couragierter und heikler Einsatz als britischer Geheimagent war ihm zwar nicht bekannt, er beteuerte jedoch, dass ihn dies keineswegs überrasche. Ich erklärte, dass ich nicht ins Detail gehen könne, da Sethos’ und Ramses’ Aktivitäten streng geheim seien.
»Verstehe«, bekräftigte Cyrus. »Ich muss keine Details wissen, ich habe genug gesehen. 1915, als der erste türkische Angriff auf den Kanal gescheitert war und
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