Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
in Gegenwart der Kinder tunlichst für sich behalten solle. Das Thema Religion ist schon schwierig genug, auch ohne Atheisten wie Emerson.
Jetzt bemerkte er süffisant und mit einem provozierenden Blick zu mir: »Abdullah scheint in relativ kurzer Zeit eine ganze Menge Gebete erhört zu haben.«
»Das hat er«, betonte ich. Ich hatte nicht die Absicht, mich von Emerson zu einer theologischen Grundsatzdiskussion provozieren zu lassen.
»Ich finde es rührend«, sagte Evelyn leise. »Ich frage mich nur, worum sie ihn wohl bitten?«
»Das Übliche, was jeder Normalsterbliche sich wünscht«, seufzte ich. »Gesundheit, Kinder, ein friedliches Leben und Vergebung der Sünden.«
Evvie setzte sich unvermittelt hin und begann, sich die Schuhe aufzubinden. Vermutlich war es weniger eine Geste des Anstands als eine willkommene Gelegenheit, das unbequeme Schuhwerk loszuwerden. Ihre Mutter verbot es ihr, da sie natürlich Angst hatte vor Skorpionen, Schlangen und scharfkantigen Steinen. Derweil wir darüber diskutierten, trat eine Gestalt aus dem dämmrigen Innern und begrüßte uns in Arabisch.
Sein Auftauchen ließ mich erschrocken zusammenfahren; ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand dort wäre. Er trug Turban und Galabija, der obligatorische Bart bedeckte seine untere Gesichtshälfte. Er kam mir irgendwie bekannt vor, dennoch wusste ich ihn nicht recht einzuordnen. Gleichwohl erwiderte ich seinen Gruß genau wie David, die anderen murmelten irgendwelche Höflichkeitsfloskeln. Bei näherem Hinsehen dämmerte es mir. Der Bursche gehörte ganz bestimmt zu Abdullahs weit verzweigter Sippe.
»Du bist Abus Sohn Abdulrassah, nicht wahr?«, erkundigte ich mich.
»Ich bin der Diener des Scheichs«, war die Antwort, gefolgt von einem entseelten Lächeln.
»Verstehe. Du hast Hassans Platz übernommen?«
Der Junge nickte. »Seid ihr zum Gebet gekommen? Das ist gut.«
»Ich glaube nicht, dass ich beten möchte«, murmelte Walter in Englisch. »Es macht dir doch nichts aus, Amelia, oder? Ich möchte nicht respektlos wirken, aber …«
»Völlig in Ordnung«, erwiderte ich. »Was ist mit den anderen?«
Evelyn schloss sich ihrem Gatten an, und nach einem forschenden Blick von Abdulrassah sagte Lia, sie wolle draußen bei ihrer Tochter bleiben. »Ich weiß die Gebete nicht mehr«, erklärte sie. »Und ich glaube, es wäre ungehörig, wenn Evvie im Innern herumlaufen würde.«
Emersons Entschuldigung war ausschließlich für meine Ohren bestimmt: »Wenn es sein muss, bete ich, aber Abdullah würde sich krank lachen, wenn er mich in seinem Grabmal katzbuckeln sähe.«
Ich sah keinen Grund, warum mein alter Freund auf Kosten Emersons nicht herzlich lachen sollte, überdies war ich mir sicher, dass es ihn freuen und beileibe nicht kränken würde, wenn ein kleiner Nachfahre in seinem Grabmonument herumtollte. Überdies nahm Dolly die Sache sehr ernst. Sein Gesichtchen war feierlich, und er hatte die Schuhe bereits ausgezogen. Also traten nur wir drei – David, Dolly und ich – ins Innere, denn uns war es eine Herzensangelegenheit. David nahm seinen Sohn bei der Hand und wies ihn durch das vorgeschriebene Ritual. Obschon sein Vater ein Kopte – ein ägyptischer Christ – gewesen war, war er bei Muslimen und bei uns aufgewachsen. Borniertheit in Glaubensfragen kennen wir nicht, und beide, Emerson wie Ramses, waren durchaus vertraut mit den bezaubernden Gebeten des Islam. David besann sich sehr gut darauf. Dollys weit aufgerissene Augen und sein angehaltener Atem bewiesen, dass er mächtig beeindruckt war, obwohl ich nicht glaube, dass er viel verstand.
Als wir wieder ins Tageslicht hinaustraten, begleitete Abdulrassah uns. »Der Heilige ist glücklich, dass seine Familie gekommen ist«, verkündete er. »Möchtet ihr jetzt etwas spenden?« Er deutete auf eine Schale am Boden neben dem Eingang, in der sich einige wenige Münzen befanden.
»Aber sicher«, ereiferte sich Walter. In seiner Gutherzigkeit wollte er die nicht erwiesene Ehrbezeugung kompensieren, folglich sagte ich nichts, als er seine Taschen sämtlicher Münzen entledigte. Über Abdulrassahs Gesicht huschte ein wahrhaft verzücktes Lächeln.
»Wofür ist das Geld?«, wollte ich wissen.
Der Jugendliche antwortete völlig arglos: »Für mich, Sitt Hakim. Bin ich nicht der Diener? Ich spreche die Gebete, ich fege den Boden.«
Wie zum Beweis nahm er den einzig für diesen Zweck gedachten Besen und kehrte energisch unsere Fußspuren weg. Es war eines jener
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