Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
faszinierenden altägyptischen Rituale – so wie die frühen Priester die Gänge der Gruft fegten und sämtliche Spuren zur Außenwelt verwischten, nachdem die Mumie ihre letzte Ruhestätte gefunden und die Trauergemeinde sich zerstreut hatte.
Wir überließen ihn seinen Gebeten – oder was er dafür hielt. Ich sagte nachdenklich: »Er war schon als Kind unsäglich faul.«
David lachte schallend. »Tante Amelia, du bist eine unverbesserliche Zynikerin. Willst du damit andeuten, er macht das nur, um sich vor schwerer Arbeit zu drücken?«
»Es liegt mir fern, seine Motive anzuzweifeln, David. Irgendjemand würde letztlich immer in Hassans Fußstapfen treten.«
»Andererseits könnte sein Tod als schlechtes Omen gedeutet werden«, murmelte David.
»So denken religiöse Menschen nicht«, erklärte ich. »Für einen wahren Gläubigen ist der Tod nicht das Ende, sondern ein Anfang. Gibt es eine bessere Garantie auf Unsterblichkeit als den Dienst für einen heiligen Mann?«
Emerson öffnete den Mund. Dann sah er zu dem kleinen Jungen hinunter, der seine Hand hielt, und schloss ihn wieder.
»Sollen wir rasch bei Selim vorbeischauen und die anderen einsammeln?«, fragte ich.
»Wir bringen die kleine Sechmet besser nach Hause«, erwiderte David. Er trug seine Tochter, und der Spitzname passte zu ihr, mit ihrer löwenfarbigen Lockenmähne und dem aufbrausenden Temperament. Augenblicklich wirkte sie wie eine gnädig gestimmte Göttin, matt und schläfrig in den Armen ihres Vaters.
»Wir müssen ihm einen richtigen Antrittsbesuch machen«, versetzte Lia. »Nicht nur einen kurzen Abstecher mit baldigem Aufbruch. Wir sind alle müde.«
Evvie beharrte darauf, mit Emerson zu reiten, und schlief prompt in seinen starken Armen ein. Wir ritten gemächlich, um die Esel nebst Reiter zu schonen. Die Schatten im Sand wurden bereits länger.
»Die anderen sind wohl schon zurückgekehrt«, meinte ich, als wir uns dem Haus näherten. »Ist das nicht Nefret auf der Veranda?«
»Geht schon rein«, sagte David. Er sprang geschmeidig vom Pferd und half Evelyn beim Absitzen. »Ich werde mich um die Tiere kümmern.«
Ich hatte einen goldschimmernden Schopf bemerkt, mich in der Person allerdings geirrt. Er saß in einem Sessel und begrüßte uns mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er ein geladener Gast. »Da sind Sie ja endlich! Ich warte schon eine ganze Weile.«
»Justin!«, entfuhr es mir. »Was machen Sie denn hier?«
Aus Manuskript H
An ihrer Identität bestand kein Zweifel, trotz des gräulich verschmierten Make-ups und der unvorteilhaften Kleidung. Ihre rehbraunen Augen schwammen in Tränen. »Ich wollte nicht … dass du … dass ihr mich so seht. Lass mich gehen. Mit mir ist alles in Ordnung.«
»Du kannst in der Dunkelheit nicht allein umherstreifen«, sagte Ramses. Er kannte keinen, der so viel weinte; es waren keine verstohlenen Tränen, sondern wahre Sturzbäche. Aus Furcht, dass sie hysterisch werden könnte, wenn er etwas Falsches sagte, forschte er behutsam: »Wie bist du hergekommen? Doch bestimmt nicht zu Fuß?«
Sie starrte ihn verständnislos an. Er zog sein Messer, und sie schrak mit einem leisen Aufschrei zurück. »Ich will doch nur deinen Ärmel aufschneiden«, erklärte er. »Er ist zu eng, um ihn hochzurollen, und ich muss sehen, wie tief die Schnittwunde ist. Um Himmels willen, Molly, du hast doch nicht etwa Angst vor mir, oder?«
»Ich hatte einen Esel«, flüsterte sie. »Er rannte weg, als dieser Mann …«
»Schon gut, weg ist weg.« Er trennte den engen Ärmel auf und streifte ihn hoch. Ein langer, schmaler Schnitt zog sich über die Rückseite ihres Oberarms. »Nicht weiter schlimm«, versicherte er erleichert. »Du kommst am besten mit zu uns, dann kann Mutter ihn vernünftig verbinden.«
»Nein, niemals! Zwing mich nicht dazu. Wenn du mich zu den Fährleuten zurückbringen könntest … ich kann mir ein Boot nehmen …«
Sie zitterte heftig. »Leg dich nicht mit mir an, in deinem Zustand kannst du nicht mehr klar denken«, sagte er. »Kein Wunder nach einer solchen Geschichte. Mutter macht das gern. Sie freut sich bestimmt, dich wieder zu sehen.«
»Ich wollte keinen von euch wieder sehen«, meinte sie mit stockender Stimme.
Aufgemacht wie eine Frau mittleren Alters, eine Lohnabhängige? Sie war sicherlich weit herumgekommen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Bei jener peinlichen Begegnung in seinem Zimmer war sie erst vierzehn gewesen. Da hatte sie ihm ihre Liebe gestanden
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