Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
schwimmen kann? Er hat damit geprahlt, dass David es ihm beigebracht habe.«
»Er braucht sicher noch ein paar Unterrichtsstunden«, erwiderte David. Sein belustigtes Lächeln verschwand. »Am besten umgehend. Du auch, Selim.«
»Find ich nicht«, murmelte Selim im Gehen. »Ich kann ganz gut schwimmen. Und jetzt, Vater der Flüche, werde ich die Männer auf Trab bringen, die am Tempel arbeiten.«
Emerson hatte sich bereits entfernt. »Ramses!«, gellte er.
Die Ruinen nördlich des ptolemäischen Tempels bargen gewisse Schwierigkeiten bei der Exkavation. Keine einzige Wand war erhalten geblieben, und es war nicht einfach, die eingestürzten Steinquader exakt zuzuordnen. Viele fehlten, weil sie von späteren Bauherren wiederverwendet worden waren. Fellachen wie Archäologen hatten auf der Suche nach Artefakten willkürlich Löcher gebuddelt, und die aufgetürmten Geröllberge sorgten für weitere Verwirrung. Emerson stieß einige besonders unschöne Verwünschungen aus, als einer der Männer eine Seite aus einer deutschen Zeitung fand. Sie war vom 4. Januar 1843 und lag einen halben Meter tief im Boden vergraben. Trotzdem kamen sie gut voran, und gegen Mittag besserte sich Emersons Laune, zumal sie ein Säulenfragment mit der Kartusche von Sethos I. lokalisierten. Während der Mittagspause begutachtete er sichtlich zufrieden die zusammengetragenen Objekte, darunter auch zerbrochene Stelen und Statuen.
»Neunzehnte Dynastie«, erklärte er. »Hathor geweiht.«
»Sie taucht ständig auf, nicht wahr?«, murmelte David.
Die älteren Emersons und die jüngeren Leute saßen ausnahmsweise für sich. Ramses spähte zu seinem Freund und schluckte eine unwirsche Antwort hinunter. Die Erwähnung jener Göttin traf bei ihm mittlerweile einen empfindlichen Nerv.
David fuhr scheinbar unbeirrt fort: »Morgen ist Vollmond, oder?«
»Was ist damit?«
David kaute an seinem letzten Bissen Sandwich, beugte sich vor und stützte sich auf den Ellbogen auf. »Es ist lange her, seit wir die letzte Mondscheinwanderung gemacht haben. Die Tempel von Luxor und Karnak sind faszinierend bei Vollmond.«
Lia schüttelte den Kopf. »Die Touristen pilgern scharenweise dorthin.«
»Wie wäre es dann mit Medinet Habu oder Deir el-Bahari? Oder der Tempel hier? Ich habe mir überlegt, ob ich ihn nicht malen soll.«
»Von mir aus«, murmelte Ramses wenig begeistert.
Nefret erhob sich aus dem Schneidersitz, glitt auf die Knie und fixierte David durchdringend. »Du hast es ihm erzählt, stimmt’s?«
»Mir was erzählt?«, erkundigte sich Ramses.
»Ihm was erzählt?«, forschte David. Darauf hellte sich sein Gesicht auf, und er lachte. »Richtig, er war an dem Morgen nicht dabei, als der Junge von irgendwelchen Leuten faselte, die Hathor bei Vollmond leibhaftig im Tempel gesehen haben wollen. Komm schon, Nefret, du glaubst solchen Unsinn doch nicht etwa, oder?«
»Mir hat keiner was erzählt«, erwiderte Ramses. Er versuchte beiläufig zu klingen, aber das glückte ihm nicht recht; errötend wich Nefret seinem Blick aus. Die beiden anderen schwiegen, sich der angespannten Situation bewusst. Schließlich murmelte Nefret: »Tut mir Leid. Dumm und unsinnig von mir, einen Zusammenhang zwischen diesem Hokuspokus und deiner Erfahrung in Kairo zu vermuten. Aber bislang ranken sich keinerlei Geschichten um Deir el-Medina, oder?«
»Soweit ich weiß nicht«, entgegnete Ramses. »Wir alle haben von der riesigen Katze gehört, die Karnak heimsucht und sich in eine spärlich bekleidete Dame verwandelt, die Männer verführt und vertilgt. Vergleichbare Legenden sind nichts Außergewöhnliches, also warum sollte Deir el-Medina keine haben? Ich begreife dich nicht, Nefret. Wieso wolltest du nicht, dass David es mir erzählt? Hast du gedacht, ich würde heimlich allein herkommen, um nachzuforschen und … Und was? Mich von einer kostümierten Irren betören lassen?«
Sie hatte mehrmals versucht, ihn zu unterbrechen. Dieser letzte Satz ließ sie hochfahren. »Ich … Du … Das ist ungeheuerlich, Ramses. Ich habe nichts dergleichen gedacht! Warum bist du gleich so eingeschnappt? Ich hab doch nur versucht …«
»Nun beruhigt euch doch«, lenkte David ein. »Gleich steht Tante Amelia auf der Matte und will wissen, weswegen ihr euch so anschreit. Vielleicht solltet ihr einander zuhören, statt euch gegenseitig mit Vorwürfen zu bombardieren. Es sei denn, es macht euch Spaß.«
Nefret setzte sich wieder. »Mir jedenfalls nicht.«
»Sieh mal einer an«,
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