Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
beherrscht?«
»War doch nur ein kleiner Scherz, Emerson. Komm, wir ziehen uns in unsere Behausung zurück. Es liegt noch einiges vor uns.«
In der Zwischenzeit hatte Selim sich der Aufgabe gewidmet, die ich ihm aufgetragen hatte. Er schob die sperrige Kamerakiste in mein Zimmer und führte sie mir vor. Sie war so konzipiert, dass sie die Kamera, das Stativ und mehrere Photoplatten aufnahm. Zudem war das Kleiderbündel darin versteckt, einschließlich der winzigen Schuhe.
»Exzellent«, lobte ich ihn. »Wie ich sehe, hast du an alles gedacht. Jetzt brauchen wir nur noch nah genug an das Haus heranzukommen und das Bündel in einem unbeobachteten Moment in den Eingang zu werfen. Ich hab auch schon eine Idee …«
Selim grinste. »Damit war zu rechnen, Sitt. Wann starten wir?«
»Sobald Daoud die Nahrungsaufnahme einstellt. Kommt, wir frühstücken mit ihm zusammen.«
Während wir aßen, erklärte ich den anderen meine Strategie. Mit Kamera und Stativ bewaffnet, sollte Selim so tun, als machte er Photos. Sein Assistent Daoud würde die Kiste schleppen, Emerson und ich auf reizvolle Objekte deuten und entsprechende Anweisungen geben.
»Die Leute werden uns folgen und beobachten«, gab Selim zu bedenken. »Können wir nah genug herankommen, um unbemerkt zu handeln?«
»Emerson und ich werden die Passanten ablenken«, erklärte ich.
Der Genannte warf mir einen kritischen Blick zu, äußerte sich jedoch nicht dazu. Bislang hatte er noch keine einzige praktikable Idee beigesteuert.
Aus Briefsammlung C
In letzter Zeit komme ich kaum noch zum Schreiben, da ich auf Schritt und Tritt bewacht werde. Ich bin stundenlang mit dem Hohepriester Amase zusammen. Er redet ständig von dem Ruhmesglanz der Göttin und ihrem göttlichen Sohn Har, dem ägyptischen Gott Horus, und unterweist mich in den Ritualen, bis ich nach und nach in eine Art Dämmerstarre verfalle. Manchmal begleitet ihn ein weiterer Priester, der bloß herumsitzt, mich anstiert und keinen Ton sagt. Der arme alte Amase ist ziemlich harmlos, aber den anderen finde ich widerlich.
Die Zofen kleiden mich an und schminken mich, als wäre ich eine Puppe, dabei stellen sie jede Menge Fragen. Sie sind ungemein neugierig, wie es wohl außerhalb des Heiligen Berges aussieht. Ob sie mir meine Schilderungen abnehmen, wage ich zu bezweifeln. Maschinen, die schneller arbeiten, als ein Kamel rennen kann, Drähte, die Nachrichten über große Distanzen übermitteln, Kleidung, von Insekten gesponnen!? Letztgenannte Geschichte fanden sie besonders spannend. Wie Elstern durchwühlen sie meine Sachen (meine Seidenunterwäsche veranschaulichte immerhin die Sache mit den Seidenraupen) und experimentieren mit meiner Kosmetik herum. Was ich als Werkzeug oder Waffe hätte benutzen können, wurde ohnehin konfisziert. Kein Skalpell, keine Feile, nichts mehr. Mein Messer und dasjenige, das ich Daria geliehen habe, sind natürlich ebenfalls weg.
Genau wie das Mädchen. Bestimmt hat Ramses sie geholt, anders wäre sie nie von hier fortgekommen. Klar, ich hätte damit rechnen müssen, nachdem Tante Amelia mich gebeten hatte, ein Licht ins Fenster zu stellen, trotzdem blieb mir fast das Herz stehen, als ich heute Morgen von Darias Verschwinden erfuhr. Ich dachte, wenn er diesen wahnwitzigen Aufstieg schon riskiert, dann für mich. Sie bedeutet ihm nichts. Es war nicht fair von ihr, mich allein zurückzulassen.
Ich bin ungerecht, nicht wahr, Lia? Aber ich habe solche Angst, ist das nicht verständlich? Gestern, nach Tante Amelias Besuch, fühlte ich mich wesentlich besser. Bis heute Morgen.
Ich darf nicht aufgeben. Das würde sie mir verübeln. Sie findet schon eine Lösung, sie und der Professor und natürlich Daoud und Selim. Und Ramses.
Wieso hat er Daria mitgenommen?
»Verdammt, diese unsägliche Eskorte raubt mir noch den letzten Nerv«, schnaufte Emerson. »Ständig tret ich denen in die Hacken.«
»Bleib stehen«, wies ich ihn an. »Die Friedhofstore sind ungemein pittoresk, was meinst du, Selim?«
»Oh ja, Sitt.« Selim fokussierte mit der Kamera. Ich tippte darauf, dass er gar keine Photoplatte eingeschoben hatte.
»Einen Augenblick noch. Der Professor und ich stellen uns dekorativ zwischen die Pylone.«
Dieses Manöver wiederholten wir mehrfach, wir kletterten über Treppen auf private Terrassen, wo wir lächelnd wie ganz normale Touristen posierten. Emerson war voll in seinem Element.
»Wollen wir noch mal zu Merasens Villa schlendern?«, zischte mein
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