Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
war nicht der einzige Grund. Mit den Jahren verblassten die Erinnerungen, bis sie mir unrealistisch wie ein seltsamer Traum vorkamen. Tante Amelia würde bestimmt darauf tippen, dass ich unbewusst verdrängen wollte. Vielleicht ist es ja auch so.
Wir werden die gleiche Reise noch einmal machen. Ich habe wirklich große Erinnerungslücken, Lia, keine Ahnung, wieso. Aber ich erinnere mich an Tarek, meinen fürsorglichen und mutigen Pflegebruder. Ich mochte ihn sehr. Allerdings hatte ich vergessen, wie er aussah, bis sein jüngerer Bruder Merasen bei uns auftauchte. Tarek bittet uns um Hilfe. Er und sein Sohn, sein einziger Erbe, leiden an einer unerklärlichen Krankheit, die in seinem Volk niemand heilen kann – was nicht sonderlich verwundert, da ihr Medizinverständnis von Magie und laienhaften Methoden geprägt ist, wie sie schon im antiken Ägypten praktiziert wurden. Ich habe alles Verfügbare über Tropenkrankheiten gelesen und hoffe inständig, dass ich helfen kann. Auf jeden Fall muss ich es versuchen. Ich verdanke Tarek mein Leben, denn in der Stadt am Heiligen Berg hätte ich bestimmt nicht lange überlebt.
Ich hatte mich gelegentlich gefragt, was nach unserer Flucht passiert sein mochte, als Tarek weiterhin um seinen Thron kämpfen musste. Was war wohl aus meinem skrupellosen Cousin Reggie Forthright geworden? Immerhin hatte er alles darangesetzt, meine Rückkehr nach England zu vereiteln, damit ich ihm die Erbschaft nicht streitig machte, die er für sich beanspruchte. Vermochte Tarek das Leid der versklavten und unterjochten Rekkit zu lindern? Hatte er geheiratet, war er Vater geworden? Vielleicht war die Stadt am Heiligen Berg aber auch dem Verfall preisgegeben, von feindlichen Stämmen überrannt oder von einer unvorhergesehenen Naturkatastrophe zerstört worden.
Inzwischen kenne ich die Antworten auf einige dieser Fragen und werde bald (Inschallah) weitere Aufschlüsse gewinnen. Es wird eine schwierige, riskante Expedition, trotzdem kann ich es kaum erwarten. Egal was passiert, ich bereue nicht, dass ich es wenigstens versucht habe. Tröste dich damit, liebe Lia, falls das Schlimmste eintritt – was ich im Moment aber nicht glaube. Tante Amelia würde der Reise sonst nie zustimmen.
»Die Würfel sind gefallen«, erklärte Emerson feierlich. »Die Zeit ist reif.«
Wir saßen rund um ein anheimelndes Lagerfeuer, zumal es nach Sonnenuntergang merklich kühler geworden war. Der Mond zeigte sich noch nicht und die hellen Konturen der Zelte schimmerten durch die Dunkelheit.
»Was für Würfel?«, fragte ich ärgerlich. »Zeit, wofür? Wir können erst in ein paar Tagen weiterreisen, wenn du das meinst. Du klingst wie das Orakel des Amun Re.«
»Woher weißt du, was ich –«
Ramses unterbrach seinen Vater. »Was Vater damit meint, ist, dass wir Daoud und Selim endlich ins Vertrauen ziehen müssen. Bislang kennen sie nur die Geschichte, die wir Mustaphas Leuten erzählt haben – dass wir westlich von hier nach Ruinen suchen.«
»Eine verdammt unglaubwürdige Geschichte«, erregte ich mich. »Bei so vielen Kamelen und Treibern, wie wir dabeihaben, nimmt uns das ohnehin niemand ab. Zumal für die kurze Strecke! Die Männer fangen schon an zu spekulieren.«
»Lass sie doch nach Lust und Laune spekulieren«, trompetete Emerson. »Die haben keinen blassen Schimmer. Herrgott, Peabody, bist du heute Abend kritisch. Hol ihr noch einen Whisky, Ramses.«
»Ihr habt ja beide Recht«, räumte ich nach ein, zwei besänftigenden Schlückchen ein. »Ramses, bitte Selim und Daoud doch zu uns, ja? Vielleicht kannst du Merasen auch dazuholen. Neuerdings geht er uns ständig aus dem Weg.«
»Er versucht, sich mit unseren Leuten anzufreunden«, bemerkte Nefret, als Ramses gegangen war. »Ich hab ihm erklärt, dass er mit seinem blasierten Gehabe nicht weiterkommt. Das hat er sich wohl zu Herzen genommen. Inzwischen sind er und der junge Ali richtige Kumpel.«
Ich musste lachen, weil der Begriff »Kumpel« so gar nicht auf Merasen passte.
Wenig später kehrte Ramses mit unseren beiden Vorarbeitern zurück. »Merasen hab ich nirgends gesehen.«
Selim zog skeptisch die Brauen hoch. »Er ist mit Ali zusammen weggegangen. Du musst ein ernstes Wort mit dem Jungen reden, Emerson; ständig lauert er den Frauen im Dorf auf und Ali ist ein junger Wirrkopf.«
»Macht euch da mal keine unnötigen Sorgen«, beschwichtigte Emerson. »Das ist unsere letzte Nacht hier. Ähm – bis auf weiteres unsere letzte Nacht. Selim –
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