Amelia Peabody 16: Wächter des Himmels
Daoud – meine Freunde, die Reise, die wir morgen antreten, ist länger und riskanter, als ich sie euch anfangs geschildert habe. Ich werde euch jetzt die wahren Motive erläutern, dann könnt ihr selbst entscheiden, ob ihr uns weiterhin begleiten wollt. Ihr habt die Wahl.«
Völlig ungerührt erwiderte Daoud: »Uns bleibt keine Wahl. Wohin der Vater der Flüche auch gehen mag, wir folgen ihm, selbst in die Feuer der Hölle.«
Emerson räusperte sich hörbar: »Hmpf. Danke, mein Freund. Aber ihr kennt die Fakten noch nicht.«
»Ist auch nicht nötig«, erwiderte Selim knapp, seine Züge anziehend markant im bleichen Licht des Mondes, der inzwischen sanft vom Himmel strahlte. »Ich schließe mich Daouds Meinung an. Zudem haben wir uns schon unsere eigenen Gedanken gemacht, Emerson. Der Junge ist kein Dorfbewohner und seine Waffe kein arabischer Dolch.«
Ohne große Umschweife begann Emerson mit der Geschichte von der verschollenen Oase. Daoud lauschte aufmerksam, schien aber keineswegs überrascht; für ihn war die Welt ohnedies voller Wunder. Selims ausdrucksvolle Miene spiegelte eine Vielzahl von Emotionen, in erster Linie jedoch Vorfreude.
»Das wird ein spannendes Abenteuer«, rief er.
»Was du nicht sagst, Selim«, meinte Emerson mit Grabesstimme. »Am Ende verdorren unsere Knochen noch im heißen Wüstensand.«
Daouds tiefe Stimme entgegnete: »Oder auch nicht. Es liegt alles in Gottes Hand.«
Emerson hatte brillantes, blumigstes Arabisch gesprochen, worauf ich auf Englisch einwarf: »Wir haben ein Sprichwort: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.«
Selim warf den Kopf zurück und lachte herzerfrischend. »Das werden wir, Sitt Hakim. Mit dir und dem Vater der Flüche kann einfach nichts schief gehen.«
Mir fielen da gewisse Eventualitäten ein, aber die behielt ich für mich. Es ist eine bewiesene Tatsache, dass Wagemut nicht unerheblich auf dem Verdrängen von Gefahren (mit anderen Worten: auf Ignoranz) und Selbstvertrauen basiert.
Selim und Daoud sicherten uns strengste Geheimhaltung zu, danach zogen wir uns zeitig zurück. Emerson schlief sofort ein, was mir nicht glückte. Mein Göttergatte schlägt sich nie mit irgendwelchen Vorahnungen herum, er glaubt nicht an solchen Mumpitz, behauptet er. Mich quälten sie in jener Nacht. Kein Wunder bei derart rosigen Aussichten. Irgendwann gab ich es auf, streifte meinen Morgenmantel über und schlüpfte aus dem Zelt. Es war fast Vollmond. Die silbrigen Strahlen erhellten eine vertraute Gestalt, die, reglos wie eine Statue, in einiger Entfernung verharrte. Mit dem Rücken zu mir schaute er nach Westen. Er hörte mich bestimmt, als ich auf ihn zutrat, gleichwohl drehte er sich nicht um.
»Ist irgendwas, Ramses?«, forschte ich leise.
Er flüsterte zurück: »Ich dachte eben an jene Nacht vor zehn Jahren, als du mich draußen vor meinem Zelt entdecktest. Damals erzählte ich dir, dass ich eine Stimme gehört hätte, die nach mir rief. Sie klang wie deine Stimme. Es war genau an dieser Stelle.«
»Oder hier irgendwo in der Nähe«, meinte ich vorsichtig, denn er klang höchst sonderbar. »Sag jetzt nicht, du hast sie wieder gehört. Diese imaginäre Stimme war das Ergebnis einer posthypnotischen Suggestion von Tarek, um dich –«
»Ich weiß, Mutter.« Sein Gesicht wirkte wie in Stein gemeißelt, die Augen dunkel umflort, die hohen Wangenknochen und der energische Mund scharf konturiert. In einer plötzlichen Panik packte ich seinen Arm und war irrwitzigerweise erleichtert, als ich seine warme Haut spürte. Er schauderte. Es war kühl. Dann sah er mich an und sagte leichthin: »Nein, Mutter, ich hab nichts gehört, auch keine geisterhaften Stimmen aus der Vergangenheit. Ich konnte einfach nicht einschlafen und wollte kurz frische Luft schnappen. Hoffentlich hab ich dich nicht aufgeweckt.«
»Ich konnte auch nicht schlafen.«
»Es wird alles gut, Mutter.«
»Ich weiß.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Ich trank gerade meinen Frühstückstee, als Selim angelaufen kam.
»Ali ist nicht zurückgekommen«, rief er so bestürzt, dass er vergaß, mir einen guten Morgen zu wünschen. »Und der Lausebengel ist nirgendwo im Lager, es sei denn, er ist hier bei dir.«
Ich sah fragend zu Ramses, der ein Zelt mit Merasen teilte. Er schüttelte den Kopf. »Er ist heute Nacht nicht da gewesen.«
»Schickt jemanden ins Dorf, um sie zu suchen.« Emersons Kiefer klappten hörbar aufeinander. »Wenn sie die Nacht auswärts – ähm – geschlafen haben, dann
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