Amelia Peabody 18: Das Königsgrab
meine Missionen bis auf eine erfüllt, und ich ging fest davon aus, dass ich den Abendexpress noch bequem erreichen könnte.
Allerdings gestaltete sich das Aufspüren von Mr Bracegirdle-Boisdragon alias Mr Smith schwieriger als vermutet. Er hatte mir irgendwann einmal seine private Telefonnummer gegeben, aber als ich dort anrief, informierte mich eine Frauenstimme auf Arabisch, dass sie Damenkundschaft nicht akzeptierten. Unschlüssig, was ich davon zu halten hatte, legte ich auf. Mein nächster Anruf galt dem Ministerium für Öffentlichkeitsarbeit, wo Bracegirdle-Boisdragon offiziell eine gehobene Position bekleidete. Ich brauchte eine Weile, um mich durch das Bürokratenwirrwarr vorzuarbeiten, und als ich endlich seinen Assistenten an der Strippe hatte, war es schon spät und ich mit den Nerven am Ende.
»Sagen Sie ihm, dass Mrs Emerson ihn um fünf Uhr im Turf Club erwartet, und wenn er nicht kommt, wird ihm das noch sehr leidtun.«
Ich finde unspezifische Drohungen immer am effektivsten; die Vorstellungskraft des Betroffenen suggeriert bei weitem dramatischere Konsequenzen, als ich sie mir je einfallen lassen könnte. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass Bracegirdle-Boisdragon in seinem Büro war, aber zu feige, um spontan mit mir zu reden.
»Nicht im Turf Club, Mrs Emerson.« Im Hintergrund klang es so, als würde der junge Mann nachfragen. »Dort hat man sich noch nicht von Ihrem letzten Besuch erholt. Sagen wir um fünf zum Tee im Groppi’s.«
Eine heiße Tasse Tee und ein schönes Stück Kuchen klangen verlockend. Zudem war das Ambiente im Groppi’s weitaus ansprechender als das geballte Männerpublikum im Turf Club; Lampen mit dunkelroten Schirmchen hüllten den Raum in ein warmes Licht, weiche Perserteppiche dämpften die Schritte. Kaum dass ich mich gesetzt hatte, begrüßte mich jemand mit sonorer Stimme. Als ich den Kopf hob, blickte ich jedoch nicht auf Smiths Bürokratenschädel, sondern in das Gesicht eines jüngeren Mannes mit hoher Stirn, sanft gerundeter Kinnpartie, Stupsnase und mädchenhaft geschwungenen Lippen.
»Mrs Emerson, richtig? Mein Name ist Wetherby. Wir haben eben miteinander telefoniert. Darf ich mich setzen?«
»Aber bitte«, entfuhr es mir. »Und dann erklären Sie mir, wieso Ihr Vorgesetzter Sie geschickt hat.«
Mr Wetherby sank auf einen Stuhl. »Er hielt es für besser, in der derzeitigen Situation nicht mit Ihnen gesehen zu werden. Ich genieße sein volles Vertrauen, Ma’am, und werde ihm umgehend Bericht erstatten.«
»Hmmm«, seufzte ich. »Na gut. Ich muss den Abendzug bekommen, also hören Sie mir zu und unterbrechen Sie mich nicht.«
Bei meiner Schilderung von Emersons und Ramses’ Begegnung mit den Möchtegern-Pyromanen spitzte er nachdenklich die Lippen. »Und wieso haben wir das nicht früher erfahren?«
»Ich hatte Sie doch gebeten, mich nicht zu unterbrechen. Wieso hat Ihr Arbeitgeber nicht aufschlussreicher auf Emersons Telegramm reagiert?«
»Seine Antwort war die schlichte Wahrheit, Mrs Emerson. Wir haben keine Ahnung, wo das fragliche Individuum sein könnte, und wir sind genau wie Sie darum bemüht, besagte Person zu lokalisieren.«
»Demnach stimmen Sie mir zu, dass die Angreifer dieses – ähm – Individuum suchen?«
»Sehr wahrscheinlich«, erwiderte Wetherby bedachtsam. Nach einem hastigen Blick über die Schulter senkte er die Stimme und fuhr fort: »Sein letzter Bericht erreichte uns vor sechs Wochen.«
»Und wo war er zu dem Zeitpunkt?«
»In Syrien«, murmelte er widerstrebend. Vermutlich ging es ihm als Mitarbeiter des Geheimdienstes gegen den Strich, irgendetwas preiszugeben.
»Was machte er dort?«
»Also wirklich, Mrs Emerson, die Frage darf ich Ihnen nicht beantworten.«
»Wahrung von Staatsgeheimnissen? Überflüssiger Bombast, diese Gesetze. Dann beantworten Sie mir doch, wer seine Opponenten sind.«
»Das weiß nur der liebe Gott«, platzte Mr Wetherby herzerfrischend aufrichtig heraus.
»In Ihrer Position sollten Sie doch aber in der Lage sein, eine Vermutung zu äußern. Immerhin wissen Sie um den Charakter seiner letzten Mission.«
»Ich weiß, wie sein eigentlicher Auftrag lautete, Mrs Emerson.«
»Und mehr wollen Sie nicht erzählen? Verstehe.« Ich warf einen Blick auf meine Taschenuhr. »Mir bleibt keine Zeit mehr, Mr Wetherby. Sie waren mir wahrhaftig keine große Hilfe.«
»Glauben Sie mir, Mrs Emerson –«
»Ja, ja. Wenn es nach Ihnen ginge. Bitte erinnern Sie Mr Smith noch einmal daran, dass er mir
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