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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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haben und im Norden wohnen konnten, wo es das ganze Jahr hindurch grün und üppig war, wo die Avocados auf dem Boden verfaulten und wo jeder, selbst die Ärmsten, ein Haus, ein Auto und einen Fernseher hatten - und jetzt konnte er ihr nicht einmal etwas zu essen besorgen.
    Schlimmer noch: sie mußte seine Mahlzeiten verdienen.
    »Nein«, sagte er, und es klang endgültig, sein Tonfall wie eine Zange um die harsche Ablehnung. »Das lasse ich nicht zu. Ich war neulich dagegen, daß du auf diese Irrfahrt gehst, nur weil dir irgendeine Frau einen Tip gibt - und du hast dich doch verirrt, stimmt's? Gib es ruhig zu. Du hättest fast nicht mehr zurückgefunden - nie wieder -, und wie hätte ich dich wohl finden sollen, na? Wie?«
    »Ich gehe ja nicht in die Stadt«, sagte sie ruhig. »Nur zur Arbeitsvermittlung. Nur ein Stück die Straße hinauf.«
    Er stellte sich das Szenario vor - seine Frau, ein barfüßiges Mädchen vom Land, das keine Ahnung vom Leben hatte, dort draußen unter all diesen Männern, diesen miesen Typen, die alles mögliche tun würden für einen Dollar - oder eine Frau -, und es behagte ihm gar nicht. Er kannte sie. Straßenpenner, die ihre Hände nicht in den eigenen Taschen lassen konnten, verschwitzte Campesinos aus Guerrero und Chiapas, die sich schon als Kinder am Vieh im Stall vergangen hatten, Indios aus Guatemala und Honduras: Schöne Frau und hallo, Süße und dann die geschmatzten Küsse. Im Textilgewerbe wäre sie wenigstens unter Frauen gewesen - aber da oben, bei der Arbeitsvermittlung, war sie ein Honigtopf, den Hunderte von Bienen umschwärmten.
    Sie wohnten jetzt seit drei Wochen im Cañon - auf gar keinen Fall hätte er sie dem Leben auf den Straßen von Los Angeles ausgesetzt, weder im Zentrum noch in Van Nuys -, und obwohl sie kein Dach über dem Kopf besaßen und nichts geregelt war, hatte er sich hier zum erstenmal seit dem Aufbruch von zu Hause glücklich gefühlt. Es gab Wasser, der Sand war sauber, der Himmel darüber gehörte ihm, nur ihm, und niemand machte ihm etwas streitig. Er dachte an seine erste Fahrt in den Norden, als er mit zweiunddreißig anderen Männern in einer Zweizimmerwohnung in Echo Park gehaust hatte, an das schichtweise Schlafen und das Schlangestehen nach Arbeit an den Straßenecken, an den Gestank dieser Wohnung, die Schaben und Läuse. Hier unten war es anders. Hier unten waren sie sicher vor dem ganzen Schmutz und dem Abschaum der Stadt, vor la chota - der Polizei - und La Migra. Zweimal hatte er hier schon Arbeit gefunden, zu drei Dollar die Stunde, keine Fragen - einmal bei einem Bauunternehmer, der eine Steinmauer aufgestellt haben wollte, und dann bei einem rico im Jaguar, der zwei Männer brauchte, die eine Senke hinter seinem Haus vom Gestrüpp befreiten. Und jeden Morgen, wenn er es wieder versuchte, ohne zu wissen, ob er mittags oder nach Einbruch der Dunkelheit zurückkäme, hatte er América eingeschärft, das Feuer zu löschen und sich nicht blicken zu lassen.
    Er hatte ihr keine angst machen wollen, aber er wußte, was passieren würde, wenn einer dieser vagos da oben sie hier unten entdeckte, während er nicht da war. Ihr würde es genauso ergehen wie diesem Mädchen auf der Müllhalde in Tijuana. Er sah sie vor sich, hagere Beine, rabenschwarze Augen. Sie war noch ein Kind, zwölf Jahre alt, ihre Eltern arme Leute, die den ganzen Tag lang arbeiteten - sie durchwühlten die Müllberge mit langen Besenstielen, in denen an einem Ende ein abgebogener Nagel steckte -, und die Besoffenen waren über sie hergefallen. Die Eltern des Mädchens hatten ein Häuschen aus zusammengenagelten Holzpaletten, ein erstaunlich robuster Bau zwischen lauter wackligen Baracken und primitiven Schuppen, und wenn sie am Morgen aufbrachen, sperrten sie ihre Tochter hinter einem Vorhängeschloß ein. Aber diese Tiere - sie lärmten vor der Tür, trommelten gegen die Wände, um zu ihr hineinzukommen, und niemand unternahm etwas. Niemand außer Cándido. Dreimal griff er sich ein Eisenrohr und vertrieb sie von dem Häuschen - Junkies, Leimschnüffler, Säufer -, und immer hörte er das Mädchen drinnen schluchzen. Zwölf Jahre. Eines Nachmittags schafften sie es, das Schloß aufzubrechen, und als Cándido hinkam, war alles schon vorbei. Diese Dreckskerle. Er wußte, wie sie waren, und er schwor sich, América nie aus den Augen zu lassen, wenn es ihm irgend möglich war, nicht bevor sie ein richtiges Haus hatten, in einer richtigen Wohngegend mit Gesetzen, Respekt und

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