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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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von Süden heraufgekommen; vor sechs Jahren hatte es noch Arbeit für alle gegeben, aber jetzt warteten auf jeden Job zwanzig Männer, und die Arbeitgeber wußten das und zahlten nur noch den halben Lohn. Die Männer hungerten. Ihre Frauen und Kinder hungerten. Für Arbeit taten sie alles, und sie nahmen jede Arbeit an - sie steckten ein, was man ihnen zahlte, und dankten dem Boss noch auf Knien dafür.
    Die Männer lehnten an Hauswänden, saßen auf dem Bordstein, rauchten und unterhielten sich in kleinen Gruppen. América betrachtete sie, so wie sie die Männer bei der Arbeitsvermittlung betrachtet hatte, und was sie sah, ließ sie den Mut verlieren und machte ihr Angst: sie hatten keine Hoffnung mehr, sie waren innerlich tot, verkrüppelt und geschlagen und kaputt wie Äste, die man von einem Baum gerissen hatte. Cándido und sie blieben eine Stunde lang dort, weniger in der Hoffnung auf Arbeit - es war lächerlich, angesichts von zweihundert Mann auch nur daran zu denken -, sondern um mit den Leuten zu reden, Neues zu erfahren und ein wenig die Lage zu beurteilen. Wo konnten sie bleiben? Wo aß man am billigsten? Gab es Straßenecken, wo es besser lief? Wurden drüben auf dem Baumarkt Leute angeheuert? In der ganzen Zeit, mindestens eine Stunde war es, sah sie nur zwei Autos anhalten, und nur sechs Männer aus dem ganzen Haufen kletterten auf die Ladeflächen.
    Und dann machten sie sich wieder auf den Weg. Sie marschierten den ganzen Tag die Straßen auf und ab, durch die kleinen Gassen, die Hauptstraßen entlang, und wieder zurück. Cándido war mürrisch und schlechtgelaunt, sein Blick verhieß nichts Gutes. Als es Abend wurde, war nichts geklärt, außer daß sie wieder Hunger hatten und Américas Füße mehr denn je schmerzten. Sie saßen auf einem Mäuerchen vor einem klotzigen öffentlichen Gebäude - dem Postamt? -, als ein Mann in ausgebeulten Hosen, das lange Haar von einem schwarzen Haarnetz zusammengehalten, sich neben sie setzte. Er war um die Dreißig und trug ein bunt kariertes Flanellhemd, das er bis zum Kragen zugeknöpft hatte, obwohl es so heiß wie in einem Hochofen war. Er bot Cándido eine Zigarette an. »Ihr seht aus, als wüßtet ihr nicht wohin, compadre«, sagte er, und sein Spanisch hatte einen harten, nordamerikanischen Beiklang.
    Cándido antwortete nicht, zog nur an der Zigarette und starrte ins Leere.
    »Sucht ihr was zum Bleiben? Ich wüßte da was«, sagte der Mann und beugte sich dabei vor, um América ins Gesicht zu sehen. »Billig. Und sauber. Total sauber.«
    »Wieviel?« fragte Cándido.
    »Zehn Dollar.« Er blies den Rauch durch die Nasenlöcher aus. América sah, daß er eine Tätowierung hatte, die wie eine Kette um den ganzen Hals verlief, kleine blaue Zahlen oder Buchstaben, genau erkannte sie es nicht. »Pro Kopf.«
    Cándido sagte nichts dazu.
    »Es ist die Wohnung meiner Tante«, sagte der Mann. Ein näselnder Ton schlich sich in seine Stimme, und América hörte die Verlockung darin. »Total sauber. Fünfzehn Scheine für euch beide.« Schweigen. Der Verkehr kroch vorbei. Die Luft war schwer und braun, dick wie Rauch. »He«, sagte er schließlich, »compadre, hast du ein Problem? Ihr braucht doch was zum Übernachten, stimmt's? Du kannst das hübsche kleine Ding hier unmöglich auf der Straße lassen. Das ist gefährlich. Das wäre nicht gut. Ihr braucht was. Zwei Nächte für zwanzig Dollar, okay? Ich meine, ein Palast ist es auch nicht. Es ist gleich da um die Ecke.«
    América beobachtete Cándidos Gesicht. Sie wagte nicht, sich in die Verhandlungen einzumischen, gleichgültig wie müde und genervt sie war. Es wäre nicht recht. Die beiden Männer mußten die Sache aushandeln. Sie tasteten einander ab, weiter nichts, sie feilschten, so wie man auf dem Markt feilscht. In diesem Moment bewegte sich das Baby, versetzte ihrem Inneren einen festen Tritt. Ihr wurde übel. Sie schloß die Augen.
    Als sie sie wieder öffnete, hatte sich Cándido erhoben. Der andere Mann auch. Ihre Mienen verrieten nichts. »Du wartest hier«, sagte Cándido, und sie sah ihm nach, wie er neben dem Fremden mit dem Haarnetz und den ausgebeulten Hosen die Straße hinaufhinkte, einen Block, zwei, der Fremde einen Kopf größer als er, sein Gang flink und nervös. Dann bogen sie um eine Ecke und waren verschwunden.

5
    Pilger am Topanga Creek
    Zum Ausklang des Sommers, zu jener Stunde, da die Erde knisternd den leisesten Hauch von Feuchtigkeit erwartet, die ihr in diesen langen Monaten der ihr

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