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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Menschenwürde.
    »Nein«, sagte er, »das kann ich dir nicht erlauben. Ich war den ganzen Tag krank vor Sorge, als du weg warst - und du siehst ja, was uns das für Pech gebracht hat.« Zur Verdeutlichung klopfte er auf seinen Arm in der Schlinge. »Außerdem gibt es dort sowieso keine Arbeit für Frauen, nur für Männer mit kräftigem Rücken. Die wollen braceros - Arbeiter, keine Dienstmädchen.«
    »Hör zu«, sagte sie ruhig und entschlossen. »Wir haben noch etwa eine Tasse Reis, ein paar hundert Gramm Trockenbohnen, sechs Maistortillas - keine Eier, keine Milch. Nicht einmal Streichhölzer haben wir zum Feuermachen. Kein Gemüse und kein Obst. Weißt du, was ich alles für eine Mango tun würde - sogar für eine Orange?«
    »Na gut«, fauchte er, »na gut«, und dabei stieß er sich von der Decke hoch und kam unsicher auf die Beine, das ganze Gewicht auf dem gesunden Bein. Die Aspirinflasche war fast leer, aber er schüttelte sich ein halbes Dutzend Pillen in die Hand und zermalmte sie mit den Zähnen. »Ich gehe selbst. Niemand soll mir sagen, daß ich meine eigene Frau nicht ernähren kann ...«
    Davon wollte sie nichts hören. Sie sprang auf und packte seinen Unterarm so fest und so energisch, daß es ihn überraschte. »Vielleicht morgen«, sagte sie. »Vielleicht erst übermorgen. Was dir passiert ist, hätte jeden anderen umgebracht. Ruh dich aus. Bald geht es dir besser. Laß dir ein oder zwei Tage Zeit.«
    Er war noch wacklig auf den Beinen. Sein Kopf fühlte sich an wie mit Watte vollgestopft. Die Krähe verhöhnte ihn aus ihrem Versteck. »Und was wolltest du für eine Arbeit machen?«
    Sie grinste und spannte den rechten Arm an. »Alles, was ein Mann kann, kann ich auch.«
    Er wollte ihr einen grimmigen, entschlossenen Blick zuwerfen, aber das Gesicht tat ihm weh, und er gab es auf. Sie war klein, wie ein Kind - sie war ja ein Kind. Mehr als achtundvierzig Kilo wog sie sicher nicht, und das Baby war noch nicht zu sehen, überhaupt nicht. Welche Aussichten hatte sie schon in dieser Arbeitsvermittlung?
    »Salat pflücken«, sagte sie. »Oder vielleicht Obst.«
    Er mußte lachen. Er konnte es sich nicht verkneifen. »Salat? Obst? Das ist doch nicht Bakersfield, das ist L. A. Hier wächst kein Obst. Keine Baumwolle, gar nichts.« Die Haut auf seinem Gesicht spannte, und er zuckte zusammen vor Schmerz. »Hier gibt's nichts als Häuser, Millionen von Häusern, ein Dach neben dem anderen, so weit du sehen kannst ...«
    Sie kratzte an einem Mückenstich auf ihrem Arm, aber ihre Augen waren hellwach, erglänzten bei seinen Worten, und ihre Lippen formten ein ganz privates Lächeln. »Ich will auch so ein Haus«, sagte sie. »Ein sauberes weißes Haus aus Holz, das so riecht wie die Berge, mit Gasherd und Kühlschrank, mit einem kleinen Garten, damit man etwas anbauen und vielleicht ein paar Hühner halten kann. Das hast du mir doch versprochen, oder?«
    Wollen. Natürlich wollte sie das. Alle, die in Tepoztlan zurückgeblieben waren, um dort zu vertrocknen und zu sterben, wollten es auch - ach was, ganz Morelos, ganz Mexiko und all die Indioländer weiter südlich wollten es, war das vielleicht etwas Neues? Ein Haus mit Garten, vielleicht noch einen Fernseher und ein Auto - nichts Besonderes, keine Paläste, wie sie sich die Gringos bauten - nur vier Wände und ein Dach darüber. War das zuviel verlangt?
    Er betrachtete ihre Lippen - volle, gierige Lippen, und er wollte diese Lippen küssen und besitzen. »Oder?« hakte sie nach, und sie spaßte jetzt nicht, es war nicht witzigscherzhaft gemeint. »Hast du doch?«
    Er hatte es ihr versprochen. Sicherlich. Er hatte all diese Dinge als Köder ausgelegt: die Waschmaschinen und Staubsauger, den Flitter des Nordens wie ein zweiter Garten Eden. Sicher, ein junges Mädchen wie sie und ein alter Kerl mit grauen Haaren im Schnurrbart - was hätte er ihr denn sonst erzählen sollen? Daß sie an der Grenze ausgeraubt würden und unter ein paar Brettern auf der Müllhalde wohnen müßten, bis er an der Straßenecke soviel verdient hatte, daß sie über die Grenze konnten? Daß sie sich wie Ratten in einem Loch verstecken und auf einer Decke an einem Bach würden leben müssen, der im nächsten Monat austrocknen dürfte? Daß er auf der Straße umgefahren würde, so daß er kaum noch aufrecht stehen und pinkeln, ja nicht einmal mehr klar denken konnte? Er wußte keine Antwort.
    Sie ließ seinen Arm los und wandte sich von ihm ab. Er sah zu, wie sie der Morgendunst

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