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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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von Schnee in der Luft lag -, aber wie sollte Delaney die triste Realität dieser Jahreszeit hier kolorieren? Sicher, er unterrichtete seine Leser über die feuerabhängige Keimung der Pyrophyten, zersetzende Extrakte von Manzanita und Chamiso und die Freisetzung von Nährstoffen aus Holzasche, aber was sollte man mit einer Jahreszeit anfangen, die nicht den die Welt verwandelnden Zauber der ersten weichen Schneedecke ankündigte, sondern infernalische Feuersbrünste, die alles auf ihrem Weg verdampften und wabernde Wolken aus pechschwarzem Qualm sechs Kilometer hoch in den Himmel spuckten?
    Der Wind fauchte, und Delaney saß an seinem Schreibtisch, wo er ihn zu deuten versuchte. Er sammelte immer noch Material für die Artikelserie über eingeschleppte Arten und Populationskonflikte, doch die jahreszeitlichen Phänomene hatten natürlich Vorrang. Wie reagierten die Erdhörnchen auf das Absinken der Luftfeuchtigkeit? fragte er sich. Oder die Eidechsen? Vielleicht konnte er etwas über die Eidechsen machen, nicht nur über die Krötenechse, sondern über die ganze Unterordnung - vom Zaunleguan über den Streifenskink und die Renneidechse bis zum gebänderten Gecko. Änderte der Wind ihr Verhalten? Sank der Wassergehalt ihrer Beutetiere? Blieben sie tagsüber während der größten Hitze länger in ihren Höhlen? Eigentlich sollte er draußen sein und sie beobachten, aber das Wetter schlug ihm aufs Gemüt. Seit Wochen lag ein Hochdrucksystem über dem Südwesten der USA, und jeder Tag war eine Kopie des vorigen: heiß, wolkenlos, der Wind wie eine Peitsche. Er war am Vortag wandern gewesen und hatte die meiste Zeit damit verbracht, sich Sonnenschutzmittel aufzutragen und seiner Mütze nachzulaufen. Der Staub blies ihm in die Augen. Die Büsche waren flach auf den Boden gedrückt wie von einer großen unsichtbaren Hand. Er kürzte seine Wanderung ab und kehrte nach Hause zurück, um bei heruntergelassenen Jalousien im klimatisierten Wohnzimmer zu sitzen und sich ein freudloses Footballmatch zwischen massigen, keuchenden Männern anzuschauen, die alle aussahen, als wären sie auch lieber woanders.
    Trotzdem war die Idee mit den Eidechsen gut, sie lohnte jedenfalls weitere Recherchen, und so stand er auf, um in seiner naturkundlichen Bibliothek zu stöbern, las hier etwas über die sechsstreifige Schwarznatter (frißt die Eier kleiner bodenbrütender Vögel, indem sie sie mit dem Maul zerdrückt und dann den Inhalt aufschleckt), den Chuckwallah (ein reiner Vegetarier) und das Gilatier (speichert Fett in seinem walzenförmigen Schwanz). Dann aber dachte er, völlig grundlos, an Geier - denen mußte es bei diesen Bedingungen doch hervorragend gehen. Über den Truthahngeier hatte niemand allzuviel geschrieben - viel zu gewöhnlich -, und gerade deshalb ließe sich daraus ein sehr interessanter Artikel machen. Jedenfalls war jetzt seine Zeit, kein Zweifel. Die Wasserressourcen trockneten aus. Alles starb.
    So saß er in Echsenerzählungen und statistische Inhaltsanalysen der Gewölleklumpen unter Geiernistplätzen versunken, als es klingelte, ein dumpfer metallischer Ton, der das Untergeschoß des Hauses durchströmte wie Luft, die aus einem Ballon entwich. Er überlegte kurz, ob er öffnen sollte. Dies war die Zeit, die er für sich hatte, seine Zeit zum Schreiben, und die war ihm heilig. Aber wer konnte es sein, um diese Zeit? Der Postbote? Ein Kurierdienst? Die Neugier überwog, und er ging an die Tür.
    Ein Mann in einem schmutzigen T-Shirt stand auf der Fußmatte, dahinter sah Delaney einen Betonmischer und zwei mit Hohlblocksteinen beladene Pritschenwagen. Der Mann trug einen Bauhelm, und seine Arme waren mit Tätowierungen übersät wie mit blauen Flecken. Um die Pritschenwagen wuselte eine Gruppe von Mexikanern. »Wollte Ihnen nur ankündigen, daß wir heute hier durchkommen«, sagte er, »und es würde uns viel helfen, wenn Sie das Gartentor auflassen könnten.«
    Durchkommen? Delaney verstand nicht recht, in seinem Kopf schwärmten Eidechsen und Geier.
    Der Mann im T-Shirt musterte ihn scharf. »Mit der Mauer«, sagte er. »Meine Leute brauchen hier Zutritt.«
    Die Mauer. Richtig. Er hätte es sich denken können. Neunzig Prozent der Wohnanlage waren bereits eingefaßt, die unermüdlichen dunkelhäutigen Männer trugen schon den Putz auf unter Bedingungen, die jeden anderen umgebracht hätten, und jetzt sollten bei Delaney die letzten Meter errichtet werden, um seinen hundelosen Garten, man würde ihn einmauern, ihm

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