América
näherte sich zunächst dem Pacific Coast Highway, weshalb derzeit alle Bewohner des unteren Cañyons evakuiert werden. Aber wie Sie auf den dramatischen Bildern unseres Helikopter-Kamerateams sehen können, hat der Wind soeben gedreht, so daß der größte Brand in Richtung der besiedelten Gebiete um Topanga Village hinaufzuklettern scheint ...«
Mehr brauchte Kyra nicht zu hören. »Ladet die Autos voll!« rief sie, und obwohl sie an Ort und Stelle stehenblieb, bewegte sie sich hektisch, als wäre sie ein Dirigent, der sein Orchester zu einem mächtigen Crescendo drängt. »Ich will die Fotoalben, wenn schon sonst nichts - und Jordan, du packst deine Anziehsachen, hörst du, als erstes Anziehsachen, und erst dann die Videospiele.«
»Okay«, hörte Delaney sich sagen, und es klang wie ein verzweifeltes Luftschnappen, »und was nehme ich mit? Die Elektronik am ehesten. Den Computer. Meine Bücher.«
Kit ließ sich in den Sessel plumpsen und fixierte starr den Fernseher und die prachtvoll lodernde orangerote Verführung des Feuers. Dann sah sie zu Delaney auf, zu Kyra, in das verkniffene, verständnislose Gesicht des Dienstmädchens. Sie trug einen champagnerfarbenen Hosenanzug mit einer Rüschenbluse in einem Mauveton und dazu passende Schuhe mit hohen Absätzen, sie war perfekt frisiert, ihr Make-up tadellos. »Ist es wirklich so ernst?«
Niemand hatte sich bewegt. Noch nicht, noch nicht. Sie starrten alle auf den Fernseher, hofften auf Aufschub, darauf, daß sie nur altes Archivmaterial sahen, nachkolorierte Aufnahmen des Dresdner Feuersturms, irgend etwas, nur nicht das Reale, Tatsächliche. Aber da war es, das Feuer, in lebendigen Farben, und da waren auch die bekannte Studiodekoration und die Moderatoren, so vertraut, als gehörten sie zur Familie. Die Nachrichtensprecher hatten besorgte, bekümmerte, warnende Gesichter aufgesetzt, sie spannten ihre prototypischen Züge an, während sie dem dramatischen Augenzeugenbericht eines Reporters lauschten, der mit windzerzaustem Haar auf der Cañyonstraße stand, in der Hand ein Mikrophon: O ja, meine Damen und Herren, das ist alles echt, wirklich, das ist es.
Kyra sah aus, als würde sie gleich abheben und die Decke durchschlagen. Orbalina, deren Englisch sich in den Antworten auf die sechs oder sieben häufigsten Abwaschkommandos erschöpfte, starrte ungläubig auf den Bildschirm und dachte zweifellos an ihre Wohnung in Pacoima - wie sollte sie dorthin zurückkommen, wenn keine Busse fuhren? Und das Ganze bedeutete ja wohl, daß sie nicht fuhren, oder? Jordan klammerte sich ans Bein seiner Mutter. Er starrte fasziniert auf die Flammen im Fernseher, und die Anweisung zum Packen war bereits wieder vergessen. Und Kit, die tiefer und tiefer im Sessel versank, verstand immer noch nicht. »Aber uns wollen sie doch nicht evakuieren«, protestierte sie matt. »Vom oberen Cañyon war doch überhaupt nicht die Rede. Oder?« »Schalte lieber den Truthahn aus«, sagte Delaney, und das schien den Bann zu brechen. »Für alle Fälle.«
2
Sie saß einfach nur da, so elend, wie sie sich noch nie im Leben gefühlt hatte, und sie kapselte ihren Verstand ab, bis die Welt sich von einer Kinoleinwand in ein Guckloch verwandelt hatte, und auch dieses Guckloch wollte sie noch verschließen. Sie wurde wahnsinnig, sie tanzte um den Rand eines Abgrunds, aber es war ihr gleichgültig. Das Baby wuchs und drückte auf ihre inneren Organe, und sie bekam rote Pünktchen auf der Haut, wie einen Ausschlag. Cándido brachte ihr Essen, und sie aß. Aber mit ihm schlafen wollte sie nicht. Sie sprach auch nicht mit ihm. Alles war seine Schuld, von der muffigen Luft im Bus auf der Fahrt von Cuernavaca nach Tijuana und dem Gestank auf der Müllhalde dort bis zu diesem Ort hier, dieser Einöde aus Blättern und Insekten und heißer, dünner Luft, wo Männer ihr schmutzige Sachen antaten und ihre Pisse brannte wie Feuer. Sie blickte durch ihr Guckloch auf das graue Laub der grauen Bäume hinaus und dachte an Soledad Ordóñez, die unscheinbare, bucklige alte Frau aus dem barrio San Miguel, die zweiundzwanzig Jahre lang nicht mit ihrem Mann redete, weil er auf dem Markt von San Andrés ihr Schwein verkauft und sich vom Erlös eine Woche lang betrunken hatte. Als er auf dem Sterbebett lag, umringt vom Priester, ihren drei Söhnen und vier Töchtern, allen siebzehn Enkelkindern und seinem Bruder, krächzte er mit viel Mühe die Worte heraus: »Soledad, sprich mit mir!« Ihr Gesicht war steinern, der
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