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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Feuerwehrleute rannten brüllend hm und her, Sirenen heulten, Lichter flackerten, Polizisten waren da, sehr viele sogar, sie sperrten die Straße nach unten ab, die letzten versprengten Autos kamen gerade aus dem Tal herauf. Cándido packte seine Frau bei der Hand und rannte mit ihr die Straße hinauf zu dem Chinesenladen - er war geschlossen und verrammelt, kein einziges Auto auf dem Parkplatz -, huschte um das Gebäude, auf der Suche nach dem Wasseranschluß im Fundament. Dort, hinter dem Supermarkt, brachen sie zusammen, tranken Wasser aus einem Schlauch, kostbares Wasser, benetzten sich die Gesichter, tränkten ihre Kleider damit. Ein bißchen Wasser - den Chinesen würde es schon nichts ausmachen, und wenn doch, wen kümmerte das? Cándidos Kehle brannte. Ein großes Flugzeug flog über sie hinweg, rasierte fast die Baumwipfel. »Ich habe Angst«, flüsterte América.
    »Hab keine Angst«, sagte er, obwohl er selbst schreckliche Angst hatte. Was würden sie mit ihm machen, was würden sie machen, wenn sie es herausfanden? Hatten sie nicht Gaskammern hier in Kalifornien? Bestimmt hatten sie welche. Sie würden ihn in einen kleinen Raum mit ein paar Zyankalikapseln stecken, und seine Lunge würde sich mit den ätzenden Dämpfen füllen, aber er würde nicht atmen, würde den Mund nicht aufmachen, würde nicht ... Er trank einen großen Schluck aus dem schlaffen Wasserschlauch und glaubte, sich übergeben zu müssen. Der Qualm war jetzt noch schwärzer und hüllte sie allmählich ein. Der Wind hatte gedreht, und das Feuer raste den Cañon herauf. »Steh auf!« sagte er, und seine Stimme klang drängend, panisch, die Stimme eines Wahnsinnigen. »Wir müssen hier weg. Jetzt!«
    Sie saß auf der Erde, ihre weiten Shorts waren völlig durchnäßt, die großen nassen Falten ihrer Umstandsbluse klebten an der runden Kugel ihres Bauchs, sie hatte Haare im Mund, ihr Gesicht war dreckverschmiert und blutig, die Augen glitzerten wild. »Nein«, sagte sie. »Ich steh nicht mehr auf. Ich bin müde. Mir ist elend.«
    Er zerrte sie hoch. »Willst du hier verbrennen?« schrie er, und sein Griff um ihren Arm tat ihr weh. »Willst du sterben?«
    Der Rauch wurde dichter. Kein Mensch war zu sehen, kein einziger, und es war unheimlich, gespenstisch, wie in einem Horrorfilm, wenn die Außerirdischen kommen. In der Ferne jaulten die Sirenen. América riß sich los von ihm und fletschte die Zähne. »Ja«, zischte sie. »Ja, das will ich.«
    Es war dunkel, dunkler als Cándido sich je hätte vorstellen können, sämtliche Häuser im Cañon waren ohne Strom, die Menschen waren evakuiert, und der Qualm schob sich wie ein Schleier vor den Himmel und das ferne Lodern des Feuers. Von hier oben, über dem Cañon, war der Brand weit weg am Horizont, wie eine Gasflamme, die unter dem großen schwarzen Topf des Himmels flackerte. Mit Einbruch der Nacht hatte sich der Wind gelegt, und jetzt war das Feuer in der Defensive, es zog sich überall in sein Bett aus Glut zurück, um den kommenden Tag und das erneute Aufleben des Sturms abzuwarten. Oder vielleicht konnten sie es auch löschen, vielleicht bekämpften die Gringos es so lange mit ihren Flugzeugen und Chemikalien, bis sie es erstickt hatten wie eine Zigarette unter dem Stiefelabsatz. Cándido wußte nicht, was der nächste Tag bringen würde, aber während er in den finsteren Cañon hinabblickte, entsetzte ihn das gewaltige Ausmaß seines Pechs; wie betäubt überdachte er die Kette von Ereignissen, die von dem glücklichen Zufall mit dem Truthahn und der schlichten Freude am Lagerfeuer zu diesem Alptraum aus Flammen, Rauchschwaden und dröhnenden Flugzeugen am Himmel geführt hatte. War er wirklich der Auslöser all dessen gewesen? Ein einzelner Mann mit einem Streichholz? Es war fast nicht vorstellbar, zuviel für sein armes, rasendes Gehirn.
    Aber er wollte sich gar nicht daran erinnern. Er war in Schwierigkeiten, in großen Schwierigkeiten, und er mußte seine Lage überdenken. Er wußte keinen Rat, er hatte Hunger, aber nur sechzehn Dollar und siebenunddreißig Cent und ein rostiges Rasiermesser in der Tasche, denn ihre gesamten Ersparnisse für die Wohnung waren irgendwo inmitten dieser Verwüstung begraben, und América klagte seit zwei Stunden über Schmerzen tief in ihrem Inneren, dort unten, wo das Baby war, und bei all dem Pech, das er hatte, wäre es da nicht typisch, wenn es gerade jetzt käme, zum allerungünstigsten Zeitpunkt. Es war die Geschichte seines Lebens: eingezwängt

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