Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Priester und der Bruder und alle Kinder und Enkel hielten den Atem an, und dann sagt sie ein einziges Wort: »Suffkopf«, und er starb.
    América vermißte ihre Mutter, und die Sehnsucht nach ihr tat so weh, als hätte man ihr einen Körperteil amputiert. Auch ihre Schwestern vermißte sie, und ihr Bett in der Ecke im Hinterzimmer mit den Postern von Rockstars und las reinas del cine an der Wand, und Gloria Iglesias und Remedios Esparza und die anderen Mädchen, mit denen sie befreundet gewesen war. Ihr fehlten menschliche Stimmen, Gelächter, die Gerüche der Straße und des Marktplatzes, Radio und Fernsehen, das Tanzen, die Geschäfte und die Restaurants. Und wer hatte ihr all das weggenommen? Bandido. Dafür haßte sie ihn. Sie konnte nicht anders.
    Doch dann, eines Tages, als América an dem jämmerlichen Bach lag wie ein totes Tier, hörte sie einen Vogel singen, drei schrille Töne und dann ein bebender, lang anhaltender kehliger Pfiff, der so traurig klang, daß ihr das Herz brach, wieder und wieder rief der traurige schöne Vogel nach seinem Partner, seinem Geliebten, seinem Mann, und América fühlte die Sonne ihr Gesicht berühren, als wäre es die Hand Gottes, und da ging das Guckloch plötzlich auf, wie der Verschluß einer Kamera. Nicht weit, nur ein kleines Stück, die winzigste Öffnung, aber von diesem Tag an begann sie sich zu erholen. Sie bekam ein Baby. Cándido liebte sie. Am nächsten Morgen kochte sie Kaffee und machte ihm etwas zu essen. Als er weg war, grub sie die Erdnußbutterdose aus und zählte die schlaffen Geldscheine darin, den Silberschatz von Kleingeld, und sie dachte: Bald, bald. Aber einstweilen sprach sie nicht mit ihm. Lächelte ihn auch nicht an. In ihr brannte eine so große Enttäuschung, daß sie sie über ihn ausgießen mußte, sie mußte seinen Kopf in das bitterschwarze Wasser tauchen, weil es die Wahrheit war, die nach wie vor galt und Bestand hatte, aber mit jedem Tag schloß sich die Kluft in ihrem Inneren ein Stückchen mehr, während zugleich das Guckloch ein Stückchen weiter aufging.
    Und als er an diesem Tag mit dem Truthahn ankam, der vom Himmel gefallen war, dem Tenksgivih-Truthahn, konnte sie ihn einfach nicht länger leiden lassen. Sie war keine Señora Ordóñez, sie konnte kein Leben voll Haß und Vorwürfen führen, den Kaffee im Trauerkleid auftischen, ihm den Teller mit Bohnen und Eiern hinknallen wie eine Waffe, sich ständig auf die Lippen beißen und innerlich fluchen. Es war zum Lachen, wie er ankam, klatschnaß bis zur Hüfte, das Klirren der Bierflaschen, den großen nackten Vogel in der Hand und quoack, quoack, quoack. Er spielte den Clown für sie, tanzte mit dem Truthahn auf dem Kopf über den Sand, vollführte ein paar alberne Hüpfer, als wäre er an einen Preßlufthammer angeschnallt. Die Blätter waren jetzt wieder grün, der Himmel war wieder blau. Sie stand auf und umarmte ihn.
    Und auch als das Feuer in die Wipfel hinaufraste wie die nahende Apokalypse, machte es ihr nichts aus, zunächst jedenfalls nicht, in der ersten Minute nicht. Sie war so beschäftigt damit, den angespitzten Spieß aus grünem Eichenholz durch den gefrorenen Körper des Truthahns zu schieben, so fixiert auf das Bild von knusprigbrauner Haut und in Bratensaft getränktem Reis, so glücklich darüber, wieder am Leben zu sein, daß sie das Tosen gar nicht hörte. Erst als sie den Kopf hob, als sie in Cándidos Gesicht blickte und sah, wie die Flammen die Blätter, Zweige und Stämme wie ein Kleid aus Feuer umhüllten. Das war eine halbe Sekunde, bevor die Panik einsetzte, eine halbe Sekunde vor der besinnungslosen, knochenschindenden, wahnwitzigen Flucht die Felswand hinauf, aber in dieser halben Sekunde wünschte sie sich aus ganzem Herzen, sie wäre stark genug gewesen, das Guckloch für immer zugehen zu lassen.
    Für Cándido war es ein Augenblick rein körperlichen Entsetzens, in dem er den fatalen Fehler beging und die Konsequenzen erkannte. Womit ließ es sich vergleichen? Mit gar nichts, so etwas hatte er noch nie erlebt, außer vielleicht damals in Arizona, als der Mann, den alle Sleepy nannten, unter dem Traktor verbrannte, weil seine Zigarette eine Benzinlache entzündet hatte, die aus dem Tank getropft war. Cándido hatte hoch oben in einem Baum auf der Leiter gestanden und Zitronen gepflückt, hatte den erstickten Schrei gehört, die Flammen emporschlagen sehen und dann den grellen Feuerball der Explosion. Jetzt aber stand er auf dem Boden, und die Flammen

Weitere Kostenlose Bücher