América
Es mußte dort doch irgend etwas geben, irgend etwas.
Er rief noch zweimal nach América, hörte ihre schwache, klagende Antwort, und dabei zählte er immer weiter - ciento ochenta y uno, ciento ochenta y dos -, während er vorsichtig weiterschlich wie ein Mann, der auf Zehenspitzen durch ein Minenfeld geht. Er hatte Angst um seine Füße, wegen der vielen Schlangen im Gebüsch, wegen der Söhne, Brüder und Onkel der einen, die er getötet hatte, aber er ging weiter, tastete sich vorwärts, was blieb ihm anderes übrig? Lieber sollten ihn alle Schlangen der Welt attackieren, als daß er in dieser Wüste der Nacht, oder auch irgendwo anders, ein Baby zur Welt brachte. Er war kein Arzt - er war ein Dummkopf, der über einen immer schwieriger werdenden Parcours stolperte, und er hatte schlechte Karten, die Schicksalsgöttinnen heulten, und alles, was gut und kostbar oder auch nur möglich war, hing einzig und allein von ihm ab. Er war bei einhundertfünfundneunzig angelangt, die Rädchen in seinem Kopf ratterten, die Verzweiflung schmerzte, als er weiter vorn einen fahlen Schimmer sah, und dann, ganz plötzlich, war sie da, und er fand sich gegen sie gepreßt: eine Mauer, eine weiß verputzte Mauer.
Cándido arbeitete sich an der Mauer entlang, suchte nach einer Öffnung. Licht gab es kaum, bis auf das Flackern des Feuers in der Ferne, und der Himmel war schwarz, so schwarz wie der Himmel in Tepoztlán während der Regenzeit. Der gelbe Widerschein der Stadt war verschwunden, alles Licht bis aufs letzte Watt niedergerungen und unterworfen vom Rauch seines kleinen Lagerfeuers, das plötzlich Amok gelaufen war. Der Gedanke machte ihm von neuem angst. Das ganze ... Ausmaß dieser Sache. Wenn sie ihn kriegten - oh, dann war sein beschissenes Leben überhaupt nichts mehr wert. Aber was dachte er da? War denn sein Leben so wichtig? Um América ging es doch. Sie war ihm in dieses Fiasko gefolgt, und jetzt wartete sie draußen im Gebüsch, wo Ratten und Kriechtiere raschelten und wo alles Licht erloschen war, sie bekam ihr Baby, und sie war durstig, müde und verängstigt.
Der Wind hatte abermals gedreht, und das hieß, daß die Flammen wieder in ihre Richtung kletterten, unbarmherzig und gnadenlos, den ganzen Cañon auffraßen, trotz allem, was die Gringos mit ihren Flugzeugen tun konnten. Er bekam kaum Luft und roch nichts als Rauch und Asche und den beißenden Gestank der Zerstörung - es war schlimmer, viel schlimmer als alles, was die Müllhalde von Tijuana zu bieten hatte. Selbst der Geruch nach dem verkohlten Fleisch toter Hunde war besser als das hier, denn dieser Gestank ging auf sein Konto, und er war außer Kontrolle. Er ging weiter, schneller jetzt, schlug wütend mit der Hand gegen die Mauer, der Kupfergeschmack der Panik stieg in seiner Kehle auf. Und was war hinter der Mauer? Häuser wahrscheinlich. Die Häuser der reichen Leute. Oder vielleicht eine Ranch - eines dieser riesigen, viereckigen Grundstücke mit einem einzigen fetten Haus genau in der Mitte. Er war nicht ganz sicher, wo er war - die Flucht den Cañon hinauf und die Straße entlang hatte ihn etwas desorientiert -, aber um nichts baute man keine Mauer. Er mußte hineingelangen, mußte es herausfinden.
Und dann stand da der Schuppen, angekündigt durch einen heftigen Schmerz im Knie und das dumpfe Scheppern von Aluminium. Cándido tastete sich darum herum und zu einer Tür, die in das schwarze Loch des Inneren führt. Dort war es stickig, den ganzen Tag lang hatte die Sonne darauf gebrannt, bis es so heiß war wie in einer dieser Schwitzhütten der Indianer, in denen sie im Reservat ihre Rituale vollzogen, und die Aluminiumdecke war sehr niedrig. Es roch scharf nach Chlor und frisch geschnittenem Gras, Benzin und Dünger - noch bevor seine Hände den Ort erforschten, wußte Cándido, wo er war. Er tastete sich die Wände entlang wie ein Blinder - er war ein Blinder, aber ein Blinder in Eile, in Hektik, es ging um Leben und Tod -, und da waren auch die Gartenwerkzeuge, die Schaufeln und Astscheren und Rasentrimmer. Seine Hände fuhren über den Rasenmäher, es war einer zum Draufsitzen, wie ein kleiner Traktor, über die Plastikeimer mit Chlor und Salzsäure und was man sonst so brauchte. Dann fand er ein Regal mit Schachteln voll Saatgut und Rattengift, bis auf einmal, milagro de milagros, seine Finger sich um eine Petroleumlampe schlossen. Eine halbe Minute, und sie war angezündet, und der Schuppen bekam plötzlich Tiefe und Farbe. Er trat mit
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