América
Eine Tankstelle und eine Secondhand-Boutique; auf der anderen Straßenseite das Postamt und das kleine Einkaufszentrum, in dem der paisano aus Italien sein Geschäft hatte. Die Männer starrten sie jetzt unverhohlen an, und ihre Blicke waren härter, gieriger. Die meisten waren allein hier, für viele Monate oder gar Jahre von ihren Familien - und ihren Frauen - getrennt. Sie waren hungrig, und sie war frisches Fleisch für sie.
Das Bild beunruhigte sie, und sie machte sich auf den Weg die Straße hinab, wobei sie sich der bohrenden Blicke bewußt war. Die Wärme, die sie zuvor empfunden hatte, die Vertrautheit, die Brüder- und Schwesterlichkeit waren plötzlich verflogen, und sie hatte im Kopf nur noch die alptraumhafte Erinnerung an jene Tiere in Tijuana - mexikanische Tiere -, die Männer, die sie und Cándido aus dem Dunkel der Nacht heraus angefallen hatten, als sie gerade über den Grenzzaun klettern wollten. Mexikaner. Ihre eigenen Leute. Und als das Licht ihre Gesichter erfaßte, waren ihre Mienen völlig ausdruckslos gewesen - kein Respekt, keine Gnade, gar nichts.
América hatte ohnehin schon schreckliche Angst gehabt - was sie und Cándido taten, war gegen das Gesetz, und sie hatte noch nie im Leben etwas Gesetzwidriges getan. Doch da kauerte sie vor dem Wellblechzaun, mit trockenem Mund und rasendem Herzen, wartete die ganze lange Nacht hindurch, bis der coyote ihnen das Zeichen gab, und dann rannten sie und Cándido und ein halbes Dutzend anderer auf der hartgebrannten Erde eines anderen Landes um ihr Leben. Zwei Drittel ihrer Ersparnisse waren an diesen Mann gegangen, an den coyote, den Schlepper und Vermittler zwischen den zwei Welten, und entweder war er unfähig, oder er hatte sie verraten. Gerade noch war er da, scheuchte sie durch ein Loch im Zaun, und plötzlich war er verschwunden, ließ sie am Grund einer kleinen Schlucht zwischen ein paar Büschen im Stich, und die Finsternis war so absolut, als wären sie in einen tiefen Brunnen gestoßen worden.
Und dann fielen die Tiere über sie her. Aus dem Nichts. Eine ganze Bande, bewaffnet mit Messern und Baseballschlägern, einer Pistole. Woher wußten sie, daß sie und Cándido hinter genau diesem Strauch verborgen waren - zu so unchristlicher Zeit, um vier Uhr morgens? Es waren sechs oder sieben Männer. Sie hielten Cándido fest und schnitten ihm die Hosentaschen auf, und dann, in der heißen, unterirdischen Finsternis, machten sie sich über sie her. Man hielt ihr ein Messer vors Gesicht, fremde Hände waren überall, und sie rissen ihr die Kleider vom Leib, als häuteten sie ein Kaninchen. Cándido schrie auf und bekam den Baseballschläger zu spüren; sie kreischte, und die Männer lachten. Aber dann, gerade als der erste seinen Gürtel öffnete, ganz genüßlich und ohne Hast, kam der Hubschrauber mit seinen Scheinwerfern, und auf einmal war es heller Tag, und die Ratten flitzten davon, und Cándido hielt sie im Arm, während die Propeller ihr die Erde gegen die nackte Haut schleuderten wie tausend glühende Nadeln. »Lauf!« rief Cándido, »lauf weg!« Und sie rannte los, splitternackt, riß sich die Füße an den scharfen Felsen und den spitzen Klauen der Wüstenpflanzen auf, doch schneller als ein Hubschrauber war sie nicht.
Nie im Leben hatte sie sich so gedemütigt gefühlt wie in jener Nacht. Sie war zusammen mit hundert anderen zu einer Reihe von Grenzpatrouillen-Jeeps getrieben worden, und dort stand sie nackt und blutig, alle Blicke auf sich gerichtet, bis ihr jemand eine Decke gab, die sie um sich legen konnte. Zwanzig Minuten später war sie wieder auf der anderen Seite des Zauns.
Bittere Erinnerungen. Sie ging weiter die Straße hinunter und überlegte, ob sie wieder in eine der steilen Seitenstraßen zu ihrer Rechten schleichen sollte, so wie gestern. Dort gab es Häuser mit Gärten voller Obstbäume, Tomaten, Paprika und Kürbis. Sie wollte nichts stehlen. Sie wußte, daß man das nicht tat. Und sie hatte auch noch nie im Leben etwas gestohlen.
Bis gestern.
In der Enge der Schlucht hallten die Stimmen wie in einem Schwimmbad wider, schrill vor Aufregung, beinahe quietschend: »Hee, na bitte - ich sag's ja?« »Wieso - hast du was gefunden?« »Scheiße, Mann, was glaubst du, was das hier ist - eine bescheuerte Feuerstelle - und Scheiße, da liegt auch 'ne Decke!«
Cándido duckte sich hinter den Felsen, wagte nicht zu atmen und zitterte so unkontrolliert, als hätte man ihn urplötzlich in Eiswasser getaucht, und dabei
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