América
Hand des dicken Mannes in ihrem Schoß, und etwas in ihr verkrampfte sich: noch nie zuvor war ihr dergleichen passiert, nicht in ihrem Heimatland, in Tepoztlán, nicht einmal auf der Müllhalde von Tijuana. Sie war siebzehn, das jüngste von acht Kindern, ihre Eltern hatten sie geliebt, sie war bis zum Abschluß zur Schule gegangen und hatte alles getan, was von ihr erwartet wurde. Fremde Männer, Hände in ihrem Schoß, ein Leben im Freien wie die wilden Tiere, so etwas hatte es nicht gegeben. Aber nun gab es das. Sie stand auf.
América überquerte den Platz wie in Trance, dabei stellte sie sich den hellen großen Raum mit den Buddhas vor und die Fenster, die die ganze Welt vor ihr ausbreiteten, und auch das Geld, fünfundzwanzig Dollar, fünfundzwanzig Dollar mehr als nichts. Die Autoscheibe warf einen Moment lang ihr Spiegelbild zurück, dann surrte sie feierlich herunter, und dahinter war das Gesicht des patrón. Er stieg nicht aus, sondern blieb sitzen, ausdruckslos, den Bart rings um den Mund leicht gestutzt, um seinen blutleeren Lippen einen Rahmen zu geben. Candelario Pérez trat zu ihm, mit diensteifriger und zugleich unterwürfiger Miene - A sus órdenes, darf ich vor Ihnen katzbuckeln? -, aber der Dicke beachtete ihn nicht. Er bedeutete América mit einem Kopfnicken, um den Wagen herumzugehen und sich neben ihn zu setzen, erst dann sah er Candelario Pérez an und sagte etwas auf englisch, eine Frage. Wollte er auch Mary haben, war es das?
Mary war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich saß sie betrunken in ihrem kleinen Holzhäuschen, vor einem Kühlschrank voller Schinken. América drehte sich zu Cándido um, er war aufgestanden, stand hinter ihr, und sie wechselten einen Blick, bevor sie den Kopf senkte, um das Auto herumlief und einstieg. Der patrón nickte kaum merklich zu ihr hinüber, als sie die Tür schloß und sich so weit entfernt von ihm wie möglich setzte, dann wandte er sich wieder an Candelario Pérez, der die Fertigkeiten von Cándido und den nächsten zwei Männern rühmte - Steinbuddhas sauberkratzen konnte doch jeder -, aber der Dicke schüttelte den Kopf. Er wollte nur Frauen.
Und dann fuhren sie vom Platz weg und die Cañonstraße hinauf, die Bäume rasten vorbei, der Wagen legte sich geschmeidig in die Kurven, Kurve für Kurve für Kurve, bis hinauf zu dem Tor, wo die Männer mit Schaufeln und Spitzhacken arbeiteten. Das Radio blieb still. Der patrón sagte nichts, sah sie nicht einmal an. Er wirkte nachdenklich - vielleicht auch müde. Seine Lippen waren verkniffen, sein Blick starr auf die Straße gerichtet. Und seine Hände - fleischig und weiß, aufgedunsen wie Schwämme - blieben, wo sie hingehörten, auf dem Lenkrad.
Sie hatte den großen Raum ganz für sich allein. Sie hob die Buddhas aus den Schachteln, tauchte sie in die ätzende Flüssigkeit, schrubbte sie mit der Bürste blank, klebte die Etiketten auf und packte sie wieder ein. Bald fingen ihre Augen an zu tränen und sie mußte sie immer wieder mit dem Ärmel ihres Kleides betupfen - was etwas umständlich war, denn es war ein kurzärmliges Kleid, und sie mußte die eine oder die andere Schulter zu den Augen heben. Auch ihre Nase und die Kehle fühlten sich seltsam an - die Atemwege schienen wund und entzündet, wie bei einer Erkältung. War die Chemikalie heute stärker als am Vortag? Mary, die große Gringa, hatte sich den ganzen Tag lang beschwert, beharrlich wie ein Insekt im Gras, aber América erinnerte sich nicht, daß es so schlimm gewesen war. Dennoch hörte sie nicht auf, die Buddhas schwammen hinter einem Vorhang aus Tränen, bis auch ihre Finger Probleme machten. Nicht, daß sie steif wurden, noch nicht, aber sie spürte ein scharfes Brennen in den Nagelbetten, so als träufelte sie sich Zitronensaft in eine Wunde, und ihr wurde schlagartig klar, daß der Dicke vergessen hatte, ihr die Gummihandschuhe zu geben. Sie hielt die Hände ins Licht und sah, daß die Haut schon ganz aufgesprungen und abgeschält war und jede Farbe verloren hatte. Das waren nicht ihre Hände - das waren die Hände eines Leichnams.
Sie erschrak. Wenn sie diese Handschuhe nicht anzog, würde am Ende des Tages von ihren Fingern nichts mehr übrig sein - nur noch Knochen, wie bei einem dieser schaurigen Kostüme für den Día de los muertos -, aber sie war zu schüchtern, um danach zu suchen. Womöglich beobachtete sie der patrón in diesem Moment, um zu prüfen, ob sie auch gründlich genug putzte, womöglich stürzte er jede Minute
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