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América

América

Titel: América Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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an. Sie sah falsche Zähne, gelbliches Zahnfleisch. Sein Blick durchbohrte sie. »Ich und meine Freund hier? Wir kennen diese Haus nicht, ja? Wir wandern, ist alles. Nur wandern.«
    Sie hatte darauf nichts zu sagen, aber sie zwang sich, ruhig stehenzubleiben und auf plötzliche Bewegungen zu achten.
    Der Mann drehte den Kopf, fauchte seinem Begleiter etwas zu, und zum erstenmal fiel ihr der seltsam hohe, kehlige Klang seiner Stimme auf. »Tut leid«, wiederholte er und sah sie erneut an. »Eine Irrtum, ist alles. Kein Problem, ja?«
    Ihr Blut pochte in den Schläfen. Sie konnte kaum atmen. »Kein Problem«, hörte sie sich sagen.
    »Okay«, sagte der Mann mit dröhnender Stimme, als er an seiner Decke zog und sich zum Gehen wandte, die Entscheidung war gefallen, der Augenblick verstrichen, »okay, kein Problem.« Sie sah ihnen nach, wie sie den Weg zurückgingen, den sie gekommen waren, und sie bewegte sich bereits langsam und fast unwillkürlich auf ihr Auto zu, als der Große plötzlich stehenblieb, als hätte er etwas vergessen, und sich grinsend noch einmal zu ihr umdrehte. »Schönen Tag noch, ja?« sagte er, »Sie und Ihre Mann. Und Ihr Bruder auch.«

2
    Cándido hatte Glück gehabt. Trotz seines Gesichts, des kaputten Beins und obwohl die Arbeitsvermittlung schon seit einer halben Stunde geschlossen hatte und alle verschwunden waren, hatte er Arbeit gefunden, gute Arbeit, Zaunpfähle setzen für fünf Dollar die Stunde, und danach war noch ein Haus innen zu streichen, bis es dunkel wurde. Der Boss war ein Chicano, der englisch konnte wie ein Gringo, aber auch seine Muttersprache noch beherrschte. Cándido hatte neben der geschlossenen Baracke auf der Erde gehockt, mutlos, wütend, voller Selbstmitleid - seine Frau hatte Arbeit, ein siebzehnjähriges Mädchen vom Land, die von nichts eine Ahnung hatte, und er fand keine, obwohl er jeden Job machen konnte, den man ihm auftrug, ob als Zimmermann, mit schweren Maschinen oder als Dachdecker -, als Al Lopez auf den Platz fuhr. Ein Indio aus Chiapas saß auf der Ladefläche seines Lasters, und der rief Cándido zu: »¿Quieres trabajar?« Und dann steckte Al Lopez den Kopf aus dem Fenster und sagte: »Cinco dólares«, weil sein zweiter Mann, ebenfalls ein Indio, krank geworden war, zu krank zum Arbeiten.
    Es war schon fast eins, als sie vor dem großen Haus in einer Siedlung eintrafen, die aus lauter großen Häusern bestand und sich hinter einem neu aufgerichteten Tor verschanzte. Cándido wußte, wofür diese Tore da waren und wen sie aussperren sollten, aber es störte ihn nicht. Er hegte weder Groll noch Neid. Er brauchte keine Million Dollar - dafür war er nicht geboren, und wenn doch, dann würde er sie im Lotto gewinnen. Nein, er brauchte nichts weiter als Arbeit, regelmäßige Arbeit, und das hier war ein Anfang. Er mischte Beton, hob Löcher aus, hantierte mit den hohlen Metallpfosten und den Plastikstreifen für den Zaun, so gut er konnte, und staunte dabei über die vielen Häuser, stolze, massive, große Gringo-Häuser, die hier aus dem Boden geschossen waren. Vor sechs Jahren, als Cándido den Cañon zum erstenmal zu Gesicht bekommen hatte, war hier nichts gewesen außer den mit goldenem Gras bewachsenen Hügeln, die sich wie der Rücken eines urzeitlichen Tiers wölbten, und den staubigen grünen Wipfeln der Eichen unten in der Schlucht.
    Er hatte in Idaho gearbeitet, bei der Kartoffelernte, hatte all sein Geld nach Hause zu Resurrección geschickt, und als es mit den Kartoffeln vorbei war, hatte er sich südwärts nach Los Angeles durchgeschlagen, weil sein Freund Hilario einen Cousin in Canoga Park hatte und es dort reichlich Arbeit gab. Es war Oktober, und eigentlich hatte er heimfahren wollen, zu seiner Frau und seiner Tante Lupe, bei der er, nachdem seine Mutter gestorben war und sein Vater wieder geheiratet hatte, praktisch aufgewachsen war. Der Zeitpunkt war günstig, denn die meisten Männer im Dorf brachen gerade auf, um in den Zitrusplantagen zu arbeiten, also wäre er bis zum Frühling Hahn im Korb. Aber Hilario überredete ihn: Jetzt bist du schon mal da, hatte er argumentiert, wozu ein zweites Mal das Risiko an der Grenze, außerdem wirst du in Los Angeles in zwei Monaten mehr verdienen als in den letzten vier in Idaho, glaub mir. Und Cándido fragte darauf: Mit was für einer Arbeit denn? Als Gärtner, sagte Hilario. Als Gärtner? Er war unschlüssig. Weißt du, sagte Hilario, für die reichen Leute mit ihren riesigen Rasenflächen und

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