América
kilometerweit entfernt, ja im Grunde gab es hier in weitem Umkreis überhaupt keinen Laden. Kyra bückte sich, um das Gefährt zu untersuchen - ihr Rock spannte sich über dem Gesäß, die Absätze sanken in die krümlige Erde -, als könnte sie so einen Hinweis darauf finden, wie es hergekommen war. Aber sie fand keinen Hinweis. Der Wagen schien neu, blitzendes Metall, kaum gebraucht. Sie ging zurück zu ihrem Auto, dessen Motor noch lief, um Papier und Kugelschreiber zu holen, weil sie die Nummer des Ladens notieren wollte. Sie sollten jemanden schicken, der das Ding abtransportierte. Nachdem sie den Wagen aus dem Graben gezerrt und zum Abholen vor das Tor geschoben hatte, setzte sie sich wieder ins Auto und fuhr auf das Haus zu, argwöhnisch und immer noch verunsichert, den Blick wachsam auf jedes Detail gerichtet.
Das Haus erhob sich vor ihr mit lichtschimmernden Fenstern, es beherrschte den Hügel wie eine Festung, die über der bretonischen Küste statt über der tiefblauen Fläche des Pazifik aufragte. Kyra hielt vor den breiten Holztoren der Garage und stellte den Motor ab. Lange Zeit saß sie einfach da, bei heruntergelassenen Fenstern, atmete die Luft ein und lauschte. Dann stieg sie aus und ging zweimal um das Haus herum, wobei sie jede Tür und jedes Fenster im Erdgeschoß überprüfte. Gleichzeitig sah sie zu den oberen Fenstern empor und hielt Ausschau nach Spuren von Eindringlingen oder Vandalismus, doch es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Schließlich, nach einem letzten Blick über die Schulter, betrat sie das Haus.
Im Inneren war es kühl und still, und es roch schwach nach Mandeln. Das war ein guter Geruch für ein Haus, ein sauberer Patrizierduft, der, wie Kyra annahm, von der Möbelpolitur herrührte, die die Putzfrau benutzte. Oder gab es Duftsprays mit diesem Aroma? Sie blieb kurz bei der Schalttafel für die Alarmanlage stehen, die sie am Morgen ausgeschaltet hatte, damit Claudia Insty von Red House einen Kunden durch das Objekt führen konnte, und tippte den Code ein, um festzustellen, ob einer der dreiundzwanzig Alarmkreise in der Zwischenzeit verändert worden war. Das war nicht der Fall. Das Haus war sicher. Sie machte rasch die Runde durch alle Zimmer, aus reiner Gewohnheit, und dabei versuchte sie die ganze Zeit, sich mögliche Szenarien auszudenken, um den Einkaufswagen wegzuerklären: der Gärtner hatte ihn gebraucht und aus Versehen nicht wieder mitgenommen, Teenager hatten ihn in einem Schabernack gestohlen und aus dem Auto geworfen - ja, genau, das mußte es sein. Aber wie war er hinter das Tor gekommen? Wozu sollten sie sich die Mühe machen, ihn so hoch zu heben - warum sollte das irgend jemand tun? Außer natürlich, sie hätten das Tor umgangen und sich durch das Gestrüpp und den Eichenwald weiter hinten gearbeitet - aber auch das beantwortete nicht die Frage nach dem Warum.
Sie schloß ab, stand schon neben der Autotür, um sie herum schwirrten Vögel und Insekten, als es sie durchschoß: Obdachlose benutzten diese Einkaufswagen. Penner. Vagabunden und Stadtstreicher. Verrückte. Mexikaner. Säufer. Aber nein, das war doch ein typisches Stadtproblem, ein Problem von der Sorte, wie man es hinter dem Supermarkt erwarten mochte, in Canoga Park, in Hollywood oder mitten in L. A. Die Gegend hier war doch viel zu entlegen. Oder nicht?
Sie hatte die Wagentür geöffnet, aber jetzt warf sie sie wieder zu. Wenn jemand hier lagerte, kampierte, draußen in den Büschen wohnte ... Delaney hatte ihr erzählt, daß er ein Camp im Cañyon aufgestöbert hatte, kilometerweit weg von allem. Wenn sie dort kampierten, wieso dann nicht auch hier? Plötzlich stieg, in aller Eindringlichkeit, das Bild eines Dorfes vor ihrem Auge auf, das sie auf einer Reise zu den Pyramiden Yucatans gesehen hatte: nackte Kinder, Schweine, Kochfeuer, Strohhütten - das durfte nicht sein. Nicht hier. Nicht auf dem Grundstück der Da Ros. Wie sollte sie einem interessierten Käufer so etwas erklären?
Aber vielleicht zog sie ja voreilige Schlüsse - bislang hatte sie nur einen Einkaufswagen gefunden, der noch dazu nagelneu war, leer und völlig harmlos. Trotzdem hielt sie es für ratsam, einen kurzen Rundgang über das Gelände zu machen, nur für alle Fälle, und obwohl sie eigentlich früh zu Hause sein wollte, ließ sie das Auto stehen und marschierte los, um die Grundstücksgrenzen abzuschreiten, in Stöckelschuhen und Nylonstrümpfen. Das war ein Fehler. Der Rasen hörte dreißig Meter hinter der
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