Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
Vom Netzwerk:
den Ausdruck in Sweeneys Gesicht. »Das ist es also«, sagte er. »Du nimmst sie tatsächlich aus dem Nichts.«
    »Na ja, nicht gerade aus dem Nichts«, sagte Mad Sweeney. »Aber du bist jetzt endlich auf der richtigen Fährte. Man nimmt sie aus dem Hort.«
    »Dem Hort«, sagte Shadow, und die Erinnerung kehrte langsam wieder. »Genau.«
    »Du musst ihn einfach in deinen Gedanken festhalten, und schon steht er dir zur Verfügung. Der Schatz der Sonne. Er ist in den Augenblicken da, wenn die Welt einen Regenbogen schafft. Er ist im Moment der Eklipse und in Zeiten des Sturms da.«
    Daraufhin zeigte er Shadow, wie man es anstellte.
    Diesmal begriff Shadow es.
     
    Shadow hatte fürchterliches Kopfweh, seine Zunge schmeckte wie Fliegenpapier und fühlte sich auch so an. Er musste wegen des grellen Tageslichts die Augen zukneifen. Er war mit dem Kopf auf der Tischplatte in der Küche eingeschlafen. Abgesehen davon, dass er irgendwann die schwarze Krawatte abgenommen hatte, war er vollständig angekleidet.
    Er ging nach unten in die Leichenhalle und stellte mit Erleichterung, wenn auch ohne Überraschung, fest, dass Mister Niemand sich nach wie vor auf dem Balsamiertisch befand. Shadow rang der Leiche die leere Flasche Jameson Gold aus den todesstarren Fingern und warf sie weg. Er hörte, wie oben im Haus jemand hin und her lief.
    Als Shadow nach oben kam, saß Mr. Wednesday am Küchentisch. Er hatte einen Plastiklöffel in der Hand und aß Kartoffelsalatreste aus einem Tupperwarebehälter. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine tiefgraue Krawatte – die Morgensonne funkelte auf dem silbernen Baum, als der die Krawattennadel geformt war. Er lächelte, als er Shadow sah.
    »Ah, Shadow, mein Junge, schön, dass Sie auf sind. Ich dachte schon, Sie würden ewig schlafen.«
    »Mad Sweeney ist tot«, sagte Shadow.
    »Das habe ich gehört«, sagte Wednesday. »Sehr bedauerlich. Natürlich steht uns allen das irgendwann bevor.« Er zog ungefähr auf Höhe seines Ohrs an einem imaginären Strick, riss dann den Kopf schräg zur Seite und ließ die Zunge heraushängen und die Augen vortreten. Für eine improvisierte Pantomime wirkte es ausgesprochen unheimlich. Dann ließ er den Strick wieder los und legte sein vertrautes Grinsen auf. »Möchten Sie Kartoffelsalat?«
    »Ganz bestimmt nicht.« Shadow ließ den Blick durch die Küche und hinaus in den Flur schweifen. »Wissen Sie, wo Ibis und Jacquel sind?«
    »Allerdings. Sie bringen gerade Mrs. Lila Goodchild unter die Erde – eine Tätigkeit, bei der sie sich sicherlich gern von Ihnen hätten helfen lassen, aber ich habe sie gebeten, Sie nicht zu wecken. Sie haben noch eine lange Fahrt vor sich.«
    »Heißt das, wir gehen von hier weg?«
    »Noch ehe eine Stunde um ist.«
    »Ich sollte mich verabschieden.«
    »Ach, das Abschiednehmen wird allgemein sowieso überschätzt. Sie werden sie zweifellos wieder sehen, bevor die ganze Angelegenheit vorüber ist.«
    Zum ersten Mal seit jener ersten Nacht, stellte Shadow fest, lag die kleine braune Katze zusammengerollt in ihrem Korb. Sie öffnete ihre uninteressierten Bernsteinaugen und blickte ihm hinterher.
    Shadow verließ also das Haus der Toten. Die winterschwarzen Büsche und Bäume waren von Eis ummantelt, als sollten sie isoliert, zu Träumen gemacht werden. Der Weg war rutschig.
    Wednesday ging zu Shadows weißem Chevy Nova voran, der draußen am Straßenrand stand. Er war kürzlich gesäubert worden, die Wisconsin-Nummernschilder hatte man entfernt und durch Minnesota-Schilder ersetzt. Wednesdays Gepäck lag bereits auf dem Rücksitz. Wednesday schloss den Wagen mit Schlüsseln auf, die offenbar Duplikate derer waren, die Shadow in der Tasche hatte.
    »Ich fahre«, sagte Wednesday. »Es dauert noch mindestens eine Stunde, bevor Sie zu irgendwas zu gebrauchen sind.«
    Sie fuhren nach Norden, zur Linken den Mississippi, einen breiten silbernen Strom unter einem grauen Himmel. Auf einem kahlen Baum neben der Straße sah Shadow einen riesigen braunweißen Falken sitzen, der aus wahnsinnigen Augen zu ihnen herunterstarrte, als sie auf ihn zufuhren, dann die Flügel ausbreitete und sich in langsamen und mächtigen Kreisen in die Lüfte schwang.
    Shadow begriff, dass sein Aufenthalt im Haus der Toten nur eine vorübergehende Atempause gewesen war, und schon begann sich das Ganze anzufühlen wie etwas, was jemand anders erlebt hatte, vor langer, langer Zeit.

ZWEITER TEIL
    ---------
     
    ainsel – ich bin ich

9
    Von

Weitere Kostenlose Bücher