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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Wind. Shadow kletterte weiter.
    Das müssen tausend Schädel sein, dachte Shadow. Tausend mal tausend. Aber nicht alle sind von Menschen. Schließlich stand er oben auf der Spitze des Turms, die großen Vögel, die Donnervögel, umkreisten ihn langsam, segelten mit kaum merklichen Flügelschlägen durch die Sturmböen hindurch.
    Er hörte eine Stimme, die Stimme des Büffelmannes, die der Wind ihm zutrug und die ihm mitteilte, wem die Schädel gehörten …
    Der Turm begann einzustürzen, und der größte der Vögel, die Augen das blendende Blauweiß eines gezackten Blitzes, stieß inmitten des Donnergrollens herunter, unmittelbar auf ihn zu, und Shadow fiel in die Tiefe, stürzte vom Turm der Schädel …
    Das Telefon schrillte. Shadow hatte gar nicht gewusst, dass es angeschlossen war. Groggy und durchgeschüttelt, nahm er den Hörer ab.
    »Was zum Teufel«, rief Wednesday, wütender, als Shadow ihn je erlebt hatte, »was fällt Ihnen eigentlich ein, verdammte Scheiße noch mal?«
    »Ich hab geschlafen«, sprach Shadow verdattert in den Hörer.
    »Was für einen beschissenen Sinn soll es Ihrer Ansicht nach wohl haben, Sie in einem Topversteck wie Lakeside unterzubringen, wenn Sie da einen solchen Aufstand inszenieren, dass selbst ein Toter darauf aufmerksam werden müsste?«
    »Ich habe von Donnervögeln geträumt …«, sagte Shadow. »Und von einem Turm. Schädeln …« Es erschien ihm äußerst wichtig, seinen Traum zu rekapitulieren.
    »Ich weiß, wovon Sie geträumt haben. Jeder weiß, wovon Sie geträumt haben, Hergott noch mal. Wozu versteckt man Sie eigentlich, wenn Sie plötzlich anfangen, Anzeigen zu schalten?«
    Shadow antwortete nichts darauf.
    Am anderen Ende gab es eine kurze Stille. »Ich werde Morgen früh kommen«, sagte Wednesday schließlich. Es klang, als hätte sein Zorn sich gelegt. »Wir gehen nach San Francisco. Blumen im Haar sind aber nicht vorgeschrieben.« Dann war die Leitung wieder tot.
    Shadow stellte das Telefon auf dem Teppich ab und setzte sich mit steifen Gliedern auf. Es war sechs Uhr morgens und draußen noch dunkel. Er erhob sich frierend vom Sofa. Er konnte hören, wie der Wind heulend über den gefrorenen See pfiff. Und er konnte jemanden weinen hören, ganz in der Nähe, getrennt nur durch die eine Wandbreite. Er war sich sicher, dass es Marguerite Olsen war: Ihr Schluchzen kam von tief unten und war beharrlich und herzzerreißend.
    Shadow begab sich zum Pinkeln ins Bad, danach ging er ins Schlafzimmer, wo er die Tür hinter sich schloss, um das Weinen der Frau nicht länger hören zu müssen. Draußen heulte der Wind, als hätte auch er ein verlorenes Kind zu beklagen.
     
    San Francisco war jetzt im Januar für die Jahreszeit zu warm, so warm jedenfalls, dass Shadow der Schweiß auf der Nackenhaut prickelte. Wednesday trug einen tiefblauen Anzug und eine goldrandige Brille, mit der er wie ein Showbusiness-Anwalt aussah.
    Sie gingen die Haight Street entlang. Die Leute, die hier die Straße bevölkerten, die Stricherinnen und die Schnorrer, blickten ihnen hinterher, aber niemand bettelte sie an, niemand richtete auch nur ein Wort an sie.
    Wednesday machte ein grimmig entschlossenes Gesicht. Shadow hatte sofort gemerkt, dass der Mann noch immer wütend war, und deshalb keine weiteren Fragen gestellt, als die schwarze Lincoln-Limousine am Morgen vor seiner Wohnung vorgefahren war. Auf dem Weg zum Flughafen hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Es war eine Erleichterung für Shadow gewesen, als sich herausstellte, dass Wednesday in der ersten Klasse, er selbst aber hinten in der Touristenklasse flog.
    Jetzt war es spät am Nachmittag. Shadow, der seit seiner Kindheit nicht mehr in San Francisco gewesen war, der die Stadt seither nur als Filmkulisse gesehen hatte, wunderte sich, wie vertraut ihm alles erschien, wie farbenfroh und originell die Holzhäuser, wie steil die Hügel waren, wie einzigartig sich das alles anfühlte.
    »Man mag kaum glauben, dass das alles hier zum selben Land gehört wie Lakeside«, sagte er.
    Wednesday blickte ihn finster an. Dann sagte er: »Tut es nicht. San Francisco und Lakeside gehören so wenig zum selben Land wie New Orleans und New York oder Miami und Minneapolis.«
    »Ach, ist das so?«, sagte Shadow milde.
    »In der Tat. Sie mögen gewisse kulturelle Signifikanten gemeinsam haben – das Geld, eine Bundesregierung, Entertainment; es ist natürlich alles derselbe Staat –, aber die einzigen Dinge, die die Illusion nähren, es würde

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