American Gods
dachte Shadow. Du denkst an deinen Sohn. Du denkst an Sandy.
In seiner Erinnerung hörte er jemanden Ich vermisse Sandy sagen. Wer war das gewesen?
»Na ja, war nett, sich mal wieder zu sehen«, sagte er.
»Yeah«, sagte sie. »Stimmt.«
Der Februar brachte eine Serie von kurzen, grauen Tagen. An manchen Tagen schneite es, an den meisten aber nicht. Es wurde wärmer, und an guten Tagen kletterten die Temperaturen über den Gefrierpunkt. Shadow blieb in seiner Wohnung, bis er das Gefühl bekam, in einer Gefängniszelle zu sitzen, und da begann er, sofern Wednesday ihn nicht als Reisebegleitung benötigte, auf Wanderschaft zu gehen.
Er wanderte fast den ganzen Tag lang und unternahm ausgedehnte Touren hinaus aus der Stadt. Er wanderte ganz für sich bis zu den unter Naturschutz stehenden Wäldern im Norden und Westen oder den Maisfeldern und Kuhweiden im Süden. Er beschritt den Lumber County Wilderness Trail, er wanderte an den alten Eisenbahngleisen entlang und erkundete dort die Seitenwege. Ein paarmal ging er sogar von Norden nach Süden an dem gefrorenen See entlang. Manchmal traf er auf Einheimische oder Winterurlauber oder Jogger, dann winkte er und grüßte sie. Meistens aber sah er niemanden, nur Krähen und Finken, einige wenige Male entdeckte er auch einen Falken, der sich an überfahrenen Waschbären oder Opossums gütlich tat. Bei einer denkwürdigen Gelegenheit beobachtete er, wie ein Adler sich einen silberglänzenden Fisch direkt aus den Wellen des White Pine River schnappte, der an den Rändern gefroren war, in der Mitte aber dennoch eine beträchtliche Strömung besaß. Der Fisch glitzerte in der Mittagssonne und zappelte und wand sich in den Klauen des Adlers; Shadow stellte sich vor, wie der Fisch sich befreite und über den Himmel davonschwamm, und lächelte dabei grimmig.
Solange er wanderte, so stellte er fest, musste er nicht nachdenken, und genau das sagte ihm zu, wenn er nämlich nachdachte, wanderten seine Gedanken in Gefilde, die er nicht beherrschen konnte, die ihm Unbehagen bereiteten. Die Erschöpfung war das Beste an der ganzen Sache. Wenn er erschöpft war, irrten seine Gedanken nicht zu Laura ab, verloren sich nicht in seltsamen Träumen oder in Dingen, die es nicht gab und nicht geben konnte. Er kam vom Wandern nach Hause und konnte schlafen, ohne Probleme und ohne zu träumen.
Im Friseursalon Georges am Rathausplatz lief er Polizeichef Chad Mulligan über den Weg. Immer wieder setzte Shadow große Hoffnungen auf Friseurbesuche, aber was dabei herauskam, entsprach nie so recht seinen Erwartungen. Nach jedem Haareschneiden sah er mehr oder weniger genauso aus wie zuvor, nur dass die Haare eben kürzer waren. Chad, der im Frisierstuhl neben ihm saß, schien überraschend besorgt um seine eigene Erscheinung zu sein. Als sein Schnitt fertig war, starrte er grimmig auf sein Spiegelbild, als hätte er nicht übel Lust, diesem einen Strafzettel zu verpassen.
»Sieht gut aus«, versicherte ihm Shadow.
»Würden Sie es gut finden, wenn Sie eine Frau wären?«
»Glaub schon.«
Sie gingen gemeinsam über den Platz zu Mabel’s und bestellten sich dort heiße Schokolade. »He, Mike«, sagte Chad. »Haben Sie je eine Karriere als Gesetzeshüter ins Auge gefasst?«
Shadow zuckte die Achseln. »Kann ich nicht behaupten«, sagte er. »Da gibt es bestimmt eine ganze Menge, was man erst lernen müsste.«
Chad schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, was das Wichtigste bei der Polizeiarbeit ist, in einer Gegend wie dieser? Ruhig Blut zu bewahren. Wenn irgendwas passiert, wenn jemand Sie anschreit, Zeter und Mordio schreit, dann müssen Sie einfach in der Lage sein zu versichern, das sei alles nur ein Irrtum und es ließe sich alles klären, wenn die Betreffenden jetzt mal ganz ruhig mit Ihnen nach draußen treten würden. Und Sie müssen in der Lage sein, das ernst zu meinen.«
»Und dann schlichtet man alles?«
»Meistens legt man den Leuten dann Handschellen an. Aber es stimmt schon, wenn es möglich ist, schlichtet man die Sache. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie einen Job möchten. Wir stellen jederzeit Leute ein. Und Sie sind einer, den wir brauchen können.«
»Ich behalte es im Auge, falls die Sache mit meinem Onkel ins Wasser fällt.«
Sie schlürften ihre heiße Schokolade. »Sagen Sie, Mike, was würden Sie tun, wenn Sie eine Cousine hätten«, sagte Mulligan. »Also, zum Beispiel eine Witwe. Und sie anfangen würde, sich bei Ihnen zu melden?«
»Wie melden?«
»Telefon.
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