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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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zurückgebliebenen Wasserdampf zu Nebel und ließ den Nebel binnen kurzem ins Nichts verschwinden.
    Die goldene Sonne bestrich die Leiche auf der Wiese mit ihren Strahlen und ihrer Hitze. Rosa und warmbraune Schattierungen überzogen das tote Ding.
    Die Frau strich mit den Fingern ihrer rechten Hand leicht über den Brustkorb des leblosen Körpers. Sie meinte, einen Schauder in dessen Brust zu spüren – etwas, was nicht gerade ein Herzschlag war, aber dennoch … Sie ließ die Hand genau über dem Herzen auf der Brust liegen.
    Sie senkte die Lippen auf Shadows Mund und atmete in seine Lunge, ein sanftes Hinein und Heraus, und dann wurde aus dem Atem ein Kuss. Ihr Kuss war zart, und er schmeckte nach Frühlingsregen und Wiesenblumen.
    Aus der Wunde in der Seite floss wieder Blut – scharlachrotes Blut, das im Sonnenlicht wie flüssige Rubine strahlte, und auf einmal hörte das Bluten auf.
    Sie küsste ihn auf die Wange und die Stirn. »Komm«, sagte sie. »Es ist Zeit, aufzustehen. Es geht los. Du willst doch nichts verpassen.«
    Seine Augen zuckten und flatterten, dann gingen sie auf, zwei Augen so grau wie der Abend, und er sah sie an.
    Sie lächelte und nahm die Hand wieder von der Brust.
    »Du hast mich zurückgerufen«, sagte er, so langsam, als hätte er das Sprechen verlernt. Schmerz lag in seiner Stimme, aber auch Verwirrung.
    »Ja.«
    »Ich war durch. Mein Urteil war gefällt. Es war vorbei. Du hast mich zurückgerufen. Wie konntest du nur?«
    »Es tut mir Leid.«
    »Ja.«
    Langsam setzte er sich auf. Er zuckte zusammen und legte die Hand an die Seite. Dann schaute er verwirrt: Da war zwar ein Perlenkranz von rotem Blut, aber keine Wunde darunter.
    Er streckte eine Hand aus, worauf sie den Arm um ihn legte und ihm auf die Beine half. Er blickte über die Wiese, als versuchte er, sich an die Namen der Dinge zu erinnern, die er dort sah: die Blumen im hohen Gras, die Trümmer des Farmhauses, den Schleier grüner Knospen, der die Zweige des großen Silberbaums einhüllte.
    »Erinnerst du dich?«, fragte sie ihn. »Weißt du noch, was du gelernt hast?«
    »Ich habe meinen Namen verloren, und ich habe mein Herz verloren. Und du hast mich zurückgeholt.«
    »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Sie werden bald anfangen zu kämpfen. Die alten Götter und die neuen.«
    »Du willst, dass ich für euch kämpfe? Da hast du deine Zeit vergeudet.«
    »Ich habe dich zurückgeholt, weil es das war, was ich zu tun hatte«, sagte sie. »Tue jetzt du, was immer du zu tun hast. Es liegt an dir. Ich habe das meine getan.«
    Plötzlich wurde sie sich seiner Nacktheit bewusst, ihre Wangen färbten sich ins glühend Scharlachrote, sie schlug die Augen nieder und wandte sich ab.
     
    Im Regen und den tief hängenden Wolken bewegten sich Schatten den Berghang hinauf auf die Felswege zu.
    Weiße Füchse trotteten in der Gesellschaft rothaariger Männer mit grünen Jacken einher. Ein stierköpfiger Minotaurus ging neben einem eisenfingrigen Dactylos. Ein Schwein, ein Affe und ein Ghul mit scharfen Zähne kraxelten Seite an Seite mit einem blauhäutigen, einen flammenden Bogen tragenden Mann, einem Bären, in dessen Fell Blumen geflochten waren, und einem Mann im goldenen Kettenpanzer, der ein mit Augen bestücktes Schwert trug.
    Der schöne Antinous, welcher der Geliebte des Hadrian war, erkletterte den Hang an der Spitze einer Gruppe von Leder-Queens, deren Arme und Brüste perfekte, steroidgestützte Formen aufwiesen.
    Ein grauhäutiger Mann, dessen Zyklopenauge wie ein riesiger Cabochon-Smaragd wirkte, ging mit steifen Schritten vor einer Gruppe untersetzter Männer von dunkler Gesichtsfarbe, deren ausdruckslose Züge in ihrer Regelmäßigigkeit an aztekische Skulpturen erinnerten: Sie kannten die Geheimnisse, die der Dschungel verschluckt hatte.
    Ein Scharfschütze auf der Hügelspitze zielte mit Sorgfalt auf einen weißen Fuchs und feuerte. Es gab eine Explosion, worauf der Geruch von Kordit, von Schießpulver, in die feuchte Luft stieg. Das Opfer war eine junge Japanerin, der es den Bauch weggerissen hatte; ihr Gesicht war blutüberströmt. Langsam löste sich die Leiche auf.
    Doch weiter ging es den Berg hinauf, auf zwei Beinen, auf vier Beinen oder auf gar keinen Beinen.
     
    Die Fahrt durch die Berglandschaft von Tennessee war, wann immer der Sturm nachgelassen hatte, unglaublich schön gewesen, recht nervenaufreibend aber, solange der Regen auf sie heruntergeprasselt war. Town und Laura hatten geredet und geredet, den ganzen

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