American Gods
Junge«, sagte sie. »Ich wollte gerade einkaufen gehen. Wissen Sie, ich bin die Einzige von uns, die Geld nach Hause bringt. Die anderen beiden können beim Wahrsagen nichts verdienen. Das liegt daran, weil sie nichts als die Wahrheit sagen, aber die Wahrheit ist nicht das, was die Leute hören wollen. Sie ist eine üble Sache, und das belastet die Menschen, deshalb kommen sie nicht wieder. Aber ich kann sie anschwindeln, ich sage ihnen, was sie hören wollen. Also bin ich es, die das Brot verdient. Glauben Sie, dass Sie zum Abendessen hier sein werden?«
»Das hoffe ich doch«, sagte Wednesday.
»Dann sollten Sie mir Geld geben, damit ich mehr zu essen kaufen kann«, antwortete sie. »Ich bin zwar stolz, aber nicht blöd. Die anderen sind stolzer als ich, und er ist überhaupt der Stolzeste von allen. Also geben Sie mir Geld, und sagen Sie den anderen nicht, dass Sie mir was gegeben haben.«
Wednesday öffnete seine Brieftasche und griff hinein. Er nahm einen Zwanziger heraus. Sarja Wetschernjaja pflückte ihm den Schein aus den Fingern und verharrte erwartungsvoll. Er zog einen weiteren Zwanziger hervor und gab ihn ihr.
»Ist gut«, sagte sie. »Wir werden Sie füttern wie die Fürsten. Gehen Sie jetzt die Treppe bis nach ganz oben. Sarja Utrennjaja ist wach, aber unsere andere Schwester schläft noch – machen Sie also nicht so viel Lärm.«
Shadow und Wednesday erklommen die dunkle Treppe. Auf dem Absatz zwei Stockwerke höher türmten sich schwarze Plastiktüten, die nach faulendem Gemüse rochen.
»Sind das Zigeuner?«, fragte Shadow.
»Sarja und ihre Familie? Keineswegs. Keine Roma. Sie sind Russen. Slawen, wie man wohl sagt.«
»Weil sie behauptet hat, sie sei Wahrsagerin.«
»Diese Kunst betreiben viele Leute. Ich selbst versuche mich mitunter darin.« Wednesday keuchte, als sie die letzte Treppe in Angriff nahmen. »Ich bin schlecht in Form.«
Der oberste Treppenabsatz führte zu einer einzelnen, rot angestrichenen Tür, die mit einem Guckloch versehen war.
Wednesday klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal, lauter diesmal.
»Okay, okay! Ist ja gut! Ich hab’s gehört!« Es folgte das Geräusch von Schlüsseln, die sich im Schloss drehten, von Riegeln, die umgelegt wurden, und das Rasseln einer Kette. Die rote Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
»Wer ist da?« Eine Männerstimme, alt und verraucht.
»Ein alter Freund, Tschernibog. Mit einem Kompagnon.«
Die Tür ging so weit auf, wie die Sicherheitskette es zuließ. Shadow konnte ein graues Gesicht erkennen, das aus dem Schatten zu ihnen herausspähte. »Was willst du, Wotan?«
»Zunächst einmal schlicht das Vergnügen deiner Gesellschaft. Und dann habe ich Informationen weiterzugeben. Von denen du profitieren könntest, wenn ich so sagen darf.«
Die Tür wurde ganz geöffnet. Der Mann im staubigen Bademantel war klein, hatte eisgraues Haar und ein zerklüftetes Gesicht. Er trug graue, blank getragene Nadelstreifenhosen und Pantoffeln. In den breiten Fingern hielt er eine filterlose Zigarette, an der er saugte, während er sie mit der hohlen Faust umschloss – wie ein Sträfling, dachte Shadow, oder ein Soldat. Er hielt Wednesday die linke Hand hin. »Dann sei willkommen, Wotan.«
»Heutzutage nennt man mich Wednesday«, sagte dieser, indem er dem alten Mann die Hand schüttelte.
Ein schmales Lächeln, gelbe Zähne blitzten auf. »Ja«, sagte er. »Sehr komisch. Und das ist?«
»Das ist mein Gefährte. Shadow, Mr. Tschernibog.«
»Angenehm«, sagte Tschernibog. Er schüttelte Shadow die linke Hand. Seine Hände waren rau und schwielig und die Fingerspitzen so gelb, als hätte er sie in Jod getaucht.
»Wie geht’s, Mr. Tschernibog?«
»Alt geht’s. Meine Eingeweide brennen, der Rücken tut mir weh, und jeden Morgen huste ich mir die Lunge in Stücke.«
»Warum steht ihr an der Tür?«, fragte eine Frauenstimme. Shadow blickte Tschernibog über die Schulter und sah eine alte Frau hinter ihm stehen. Sie war kleiner und zerbrechlicher als ihre Schwester, aber ihr Haar war lang und von noch goldener Farbe. »Ich bin Sarja Utrennjaja«, sagte sie. »Sie sollten nicht da im Flur stehen. Kommen Sie herein und setzen Sie sich. Ich werde Kaffee bringen.«
Durch die Tür ging es in eine Wohnung, die nach totgekochtem Gemüse, Katzenklo und filterlosen ausländischen Zigaretten roch. Sie wurden durch einen winzigen Flur, an mehreren geschlossenen Türen vorbei, zu einem Wohnzimmer geführt und dort gebeten, auf dem riesigen
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