Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
in jeder Main Street gab es eine Poststelle, ein Hotel, einen Saloon und einen General Store. Die Bank stand grundsätzlich an der Ecke von First und Main Street, die ersten Kirchen wurden meistens irgendwo an der Third Street errichtet.
Trotz solcher Uniformität hielten die Bewohner häufig schon nach kurzer Zeit ihre Siedlung für die schönste und beste weit und breit. Sie errichteten großzügige Rathäuser und Gerichtsgebäude, verschönerten ihre Main Street auf jede erdenkliche Weise, glaubten fest an den Aufstieg ihrer einzigartigen Stadt und ignorierten hartnäckig, »dass sie nur unbedeutende Steine in einem großen Spiel waren«, wie Amato es ausdrückt.
Die Geschichte von Marshall, Minnesota, begann im Sommer 1872, als eine Gruppe von Siedlern ihre Zelte in einer Biegung des Redwood River aufschlug, wo die Winona & St. Peter Railroad eine Stadt gründen wollte; es gab dort schon eine Poststelle und mehrere Farmen. »In alle Richtungen erstreckte sich eine wellige, scheinbar endlose Prärie, grün, nie von einer Menschenhand berührt«, erzählte einer der Pioniere Jahre später. So sah die Landschaft des Mittleren Westens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus. Noch war die Geräuschkulisse schlicht wie im 17. Jahrhundert in Deerfield: das Plätschern des Flusses, das Pfeifen des Windes über der Prärie, die Rufe von Sumpfvögeln. Im Winter manchmal wochenlang das Heulen des Blizzards, auch das.
Kaum drei Monate nach der Ankunft der Siedler, am 12. Oktober, schrillte zum ersten Mal die Dampfpfeife einer Lokomotive über die Ebene. Die Brücke war fertiggestellt, der erste Zug traf ein, sogar ein Hotel war schon gebaut worden, dessen Fußboden allerdings eine Woche später einbrach, als halb Deerfield dort feierte und tanzte. Siedler kamen und gingen. »Eine Familie traf mit dem Abendzug in der Stadt ein«, erzählte der schon zitierte Pionier, »mietete am nächsten Morgen ein Ochsengespann und anderes Vieh und zog in die Prärie, um sich ein Stück Regierungsland zu suchen.«
Ein Jahr später, am 11. Oktober 1873, gab es in der Stadt sechs Läden, darunter zwei Eisenwarenhandlungen, außerdem vier Hotels, zwei Mühlen, eine Schmiede und eine Druckerei, die sogar eine Zeitung, The Prairie Schooner , herausbrachte. Laut Steuerschätzung von 1874 wohnten in Marshall nach einem weiteren Jahr 524 (männliche) Wähler, man zählte 498 Pferde, 2690 Stück Vieh und 365 Fuhrwerke und Kutschen. Im selben Jahr wurden in der Main Street hölzerne Gehwege gebaut.
Die langen Winternächte waren noch von Wolfsgeheul erfüllt, 1874 wagten sich große Rudel von allen Seiten bis auf weniger als eine Meile an die kleine Stadt heran. Auch als Marshall ans Telefonnetz angeschlossen war – die ersten Leitungen wurden 1881 verlegt –, als es über eine eigene Kapelle verfügte – die 1889 gegründeten Marshall High School Band – und insgesamt drei Banken, fünf Hotels und sieben Kirchen besaß, das war um das Jahr 1900, blieb es noch lange eine offene Siedlung in einer stillen weiten Ebene. Im Jahr 1905 schrieb ein Besucher, wenn auf dem Bahnhof » All aboard « gerufen werde, sei das noch Meilen entfernt draußen in der Prärie zu hören.
Danach entwickelte sich Marshall wie alle kleinen amerikanischen Städte. Den meisten Menschen boten sich immer mehr Möglichkeiten, neue Medien holten zuvor Unbekanntes ins Wohnzimmer, auch mit einem einfachen Radio konnte man alles empfangen, was man wollte. Die jungen Männer wurden zum Militär eingezogen, einige von ihnen sahen viel von der Welt: Europa, später Korea oder Vietnam. Wer gesund zurückkehrte, lebte dann nicht unbedingt wieder in seinem Geburtsort. Zum Beispiel erleichterte die sogenannte G.I. Bill of Rights aus dem Jahr 1944, eigentlich Servicemen’s Readjustment Act, den heimgekehrten Soldaten des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang auch in der Großstadt, denn das Gesetz garantierte ihnen eine Art Arbeitslosengeld für ein Jahr, günstige Existenzgründerdarlehen und das Recht auf einen Studienplatz an einer Universität. Und diejenigen, die doch in der Kleinstadt blieben, holten nach und nach die Errungenschaften der Großstadt auch in die Provinz: gute Ärzte, Krankenhäuser und Schulen, eine Universität. Später auch Schwimmbäder und Golfplätze.
All das sah Steinbeck in den vielen Kleinstädten, durch die er kam. Sie hatten damals ihren Zenit erreicht.
Joe Amato nimmt uns ins nahe gelegene Ghent mit. Das Dorf wurde 1881 von zwölf flämischen
Weitere Kostenlose Bücher