Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Wölfe ausgezahlt. Oder man erzählt die Geschichte aus dem Blickwinkel der Landschaft, zum Beispiel des Redwood River. Das tut Amato.
Kaum sind wir angekommen, schleppt er mich ins Stadtarchiv, untergebracht in einem kleinen Saal der Southwest Minnesota State University. »Hier, das Tax Assessment Book von 1901. Ziemlich viel Wohlstand, das zeigen die Mengen an Vieh, Klavieren, Nähmaschinen, Juwelen, Möbelstücken. Und überall in der Prärie muss es kleine Farmen gegeben haben, das sieht man an der Zahl der Brunnen und Quellen.«
Er drückt mir ein längliches rotes Buch in die Hand, den Jail Record der Jahre 1909 bis 1939. Darin geht es zumeist um drunken oder disorderly behavior , ich finde aber auch Notizen über abandonment wife und bigamy . Unter all den Namen von Immigranten sehe ich nur drei niederländische: John Hennen saß 1921 einundsechzig Tage wegen eines Raubversuchs ein, Fred Leschen und Frank van Althorst 1920 beziehungsweise 1931 wegen Trunkenheit. Die Inhaftierten werden im Lauf der drei Jahrzehnte immer amerikanischer; zuerst sind die meisten von ihnen noch in Belgien, Norwegen, Deutschland oder Dänemark zur Welt gekommen, nach 1920 fast nur noch in Minnesota, Ohio oder Kentucky.
Marshall liegt im Süden einer Region, in der die Einzugsgebiete des Sankt-Lorenz-Stroms mit den Großen Seen, der Hudson Bay mit dem dazugehörigen Flusssystem und das riesige Mississippi River Basin mit den Stromgebieten von Mississippi, Missouri, Ohio und anderen bedeutenden Flüssen aneinandergrenzen. Flüsse und Seen bildeten jahrhundertelang die wichtigsten Transportwege durch den nordamerikanischen Kontinent, nicht zuletzt für die amerikanischen Ureinwohner. Auch der Verlauf der Handelsrouten auf dem Land richtete sich nach dem Netz der Wasserläufe, über das jeder Ort in der »Wildnis« mit dem Rest der Welt verbunden war. Noch Tocqueville und Beaumont reisten 1831 hauptsächlich auf diesem Flussnetz, wenn auch mit einem für jene Zeit sehr modernen Fortbewegungsmittel, dem Dampfschiff. Die natürlichen Wasserwege waren die Lebensadern der frühen Vereinigten Staaten.
Die Vorhut der großen Veränderungen bildeten wie immer die Landvermesser und Kartographen. Hunderte von ihnen zogen seit den letzten anderthalb Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in die noch größtenteils unerforschten und unkartierten Gebiete westlich der Gründerstaaten; die rechtliche Grundlage für ihre Tätigkeit bildete die sogenannte Land Ordinance von 1785, die den Erwerb von Land in diesen Regionen regeln sollte. Sie arbeiteten in Gruppen und verwendeten unter anderem Ketten mit einer Länge von genau 660 Fuß, einer Achtelmeile. Es war ein gigantisches und erstaunlich ehrgeiziges Projekt. Hundertvierzig Jahre dauerte es, bis der gesamte Westen in die bekannten Quadrate von 160 und 320 acres (etwa 64 und 128 Hektar) eingeteilt war. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts konnten die Landvermesser ihr Werk in der Prärie Montanas vollenden.
Durch das riesige Gebiet des amerikanischen Westens wurden von 1860 an Eisenbahnstrecken gebaut. Der Homestead Act von 1862 erlaubte jeder erwachsenen Person, im Westen ein 160 acres großes Stück unbesiedeltes Land für sich abzustecken und zu bewirtschaften; das machte den Westen für Einwanderer außerordentlich attraktiv. Die Prärie hatte man in Sektionen von 640 acres eingeteilt; entlang der imaginären Linien der Kartographen wurden schnurgerade Straßen angelegt und im Abstand von jeweils sechs Meilen Siedlungen gegründet, jede mit einem Schulhaus, einem Gerichtsgebäude und einigen anderen obligatorischen Einrichtungen. So wurde ein strenges Raster über die Landschaft gelegt, zu dem die alten Wege und Wasserläufe nicht so recht passen wollten.
Keine anderen Linien zerschnitten die Landschaft so wie die der Eisenbahnen. Die Bahngesellschaften gründeten noch während des Baus der Strecken alle paar Meilen eine Stadt; in Minnesota hatte man aufgrund verschiedener Kalkulationen einen Abstand von sieben Meilen vorgeschrieben. Häufig dachten sich die Eisenbahnbosse selbst die Namen für die neuen Städte aus, sie benannten sie gern nach ihren Kindern – deshalb haben zahlreiche Orte so elegante Frauennamen wie Loraine, Alice, Marion oder auch Ismay, eine Kombination aus Isabel und May.
In allem waren diese neuen Siedlungen einheitlich: in der Anlage des Straßennetzes, der Architektur der Häuser, sogar in den Straßennamen. Die Gebäude waren kaum mehr als große hölzerne Schuhkartons;
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