Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
verwandelt sich wie durch Zauberhand in einen bequemen Touristen, die eine Hälfte eines einträchtigen Ehepaares. Steinbeck schreibt nicht mehr über den Himmel, die Stille oder die paar einsamen Seelen, denen er begegnet, sondern über die Hotels und über kleine Auseinandersetzungen mit dem Personal. Charley verschwindet in Rosinantes Camperaufsatz, man hört ihn nur noch leise fiepen.
Die Gründe für den abrupten Wechsel sind nicht klar ersichtlich. Vielleicht sollten diese Passagen eine Art Ode an Elaine werden. Vielleicht waren sie auch der Versuch einer Überleitung zu Kapiteln über das moderne Amerika und die Entfremdung von seinen alten Freunden, die er später auf seiner Reise erlebte. Möglicherweise dachte er beim Schreiben nun auch an die Leser des Magazins Holiday , die sich natürlich vor allem für touristische Aspekte interessierten. Außerdem entsprach dieser Teil des Berichts ausnahmsweise tatsächlich dem, was er erlebt hatte. Nur passte er einfach nicht zum Rest der Geschichte.
Wie dem auch sei, die Kalifornien-Abschnitte, in denen Elaine eine Hauptrolle spielte, finden sich weder in der Holiday -Fassung noch in der Buchausgabe von Die Reise mit Charley . Ein paar kritische Bemerkungen seiner Agentin Elisabeth Otis dürften genügt haben, um Steinbeck zu den Streichungen und Änderungen zu bewegen, vielleicht war das aber auch gar nicht nötig. Steinbeck war ein zu erfahrener Schriftsteller und Geschichtenerzähler, um solche stilistischen Abweichungen stehen zu lassen. Das » we « wurde systematisch durch » I « oder » Charley and I « ersetzt, Elaine und die netten Restaurants verschwanden, Charley thronte wieder auf dem Beifahrersitz.
In Seattle gießt es so heftig, dass sogar die Einheimischen sich wundern. Das will etwas heißen in einer Stadt, der man nachsagt, Nässe aus dem ganzen Umkreis aufzusaugen wie ein Schwamm – Seattle und Regen sind fast Synonyme. Die Innenstadt ähnelt der von San Francisco, die Straßen sind steil, überall sieht man den Ozean, auf dem Fischmarkt am Kai geht es meist lebhaft zu.
Aber an diesem Wochenende ertrinkt alles, die Rinnsteine und Gullys können gar nicht so viel schlucken, wie sie müssten, und der Ozean macht sich unsichtbar; man hört nur das Tuten der Fähren irgendwo im Nebel.
Wer in Seattle geboren und aufgewachsen ist, stört sich an so etwas nicht. Die Stadt war ursprünglich eine Art Außenposten von Alaska, Fisch und Holz bildeten die Grundlagen der Wirtschaft. Und die Einwohner mussten für alles selbst sorgen: Sie bauten nicht nur ihre eigenen Häuser, sondern auch eine Eisenbahnstrecke; um dem Frauenmangel abzuhelfen, organisierte man Fahrten für potentielle Bräute aus dem Osten, darunter viele Sezessionskriegswitwen.
An der Küste, wo heute unser Hotel steht, besuchte Ernie Pyle 1937 eine jener als Hoovervilles bezeichneten provisorischen Siedlungen, von denen es in der Zeit der Großen Depression viele gab, ein Elendsviertel, dessen Behausungen aus alten Kisten und Treibholz zusammengezimmert waren. Er verbrachte dort einen Nachmittag mit Bürgermeister Jesse Jackson, einem mageren Mann, der unter den Bewohnern großen Respekt genoss. Trinkerei war streng verboten; Kinder und junge Frauen durften die Siedlung nicht betreten, das sollte Konflikten vorbeugen. Die Männer, allesamt arbeitslos, schlugen sich mit dem Sammeln von Treibholz und dem Abholen des Mülls von Läden und Hotels durch. »Die meisten von uns hier sind Holzfäller und Seeleute und Fischer und Bergleute«, sagte Jackson. »Wir sind an ein hartes Leben gewöhnt. Wir bauen uns hier unsere eigenen Hütten. Wenn man ein Dach über dem Kopf hat, ist der Kampf schon zu drei Vierteln gewonnen.«
Heute ist Seattle eine der reichsten und attraktivsten Städte der Vereinigten Staaten. Es ist die Stadt von Boeing – seit dem Zweiten Weltkrieg –, Jimi Hendrix – seit 1942 –, Starbucks – seit 1971 –, Nirvana und Pearl Jam – seit Ende der achtziger Jahre – und Microsoft – seit 1979, als das Unternehmen seinen Hauptsitz von Albuquerque hierher verlegte.
Die Hügel, auf denen sich Jacksons Männer im Sommer ein paar Dollar als Obstpflücker verdienten, sind mit Landhäusern und Cottages bebaut; dort wohnt das arbeitende Amerika des 21. Jahrhunderts. Die Stadtviertel haben hübsche Namen wie Edgewood Park, College Hills und Bellevue, die schattigen Alleen verströmen den Frieden des alten Deerfield. Hier steht wieder der Generaldirektor neben dem Pförtner
Weitere Kostenlose Bücher