Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
»Das ist doch alles ein einziger Filz. Nie wird etwas von dem wahr gemacht, was man verspricht.« Sein Blick wird hart. »Irgendwann gibt es hier noch eine Revolution, denke ich oft, vielleicht sogar früher, als wir glauben.«
Wieder Schweigen. Draußen wird der Nebel immer dichter. Die Jäger murmeln an der Bar vor sich hin, der Papagei kreischt, ein paar Hunde bellen, ein Stuhl wird verschoben.
Am nächsten Tag kommt plötzlich die ruhige Stimme eines sehr britischen Nachrichtensprechers aus dem Autoradio. Es lebe die CBC ! Wir nähern uns der kanadischen Grenze, fahren eine Weile an ihr entlang durch ein Gebiet aus Seen, Wäldern und Sümpfen, in der Ferne das Graublau verheißungsvoller Berge. Zu beiden Seiten der Straße sind sowohl viktorianische Villen als auch Wohnwagen und Holzhütten zu sehen. Und immer mehr Verfall: halb eingestürzte Garagen, Scheunen und Häuser, ein schrottreifer kanadischer Eisenbahnwaggon, eine ausgebrannte Tankstelle, sogar eine Kirche in bedenklicher Schieflage. »Gott ist wie Klebeband. Man sieht es nicht, aber man weiß, dass es da ist«, steht auf einem großen weißen Schild vor der Eingangstür.
Im General Store von Brookton, dem einzigen Laden weit und breit, unterhalte ich mich mit ein paar Farmern im Ruhestand über die Geschichte dieser Gegend. Hin und wieder waren uns, wie Steinbeck, Ruinen von Häusern aufgefallen, die aussahen, als wären sie von einem gewaltigen zornigen Daumen eingedrückt worden. Ja, das sei der Schnee gewesen. »Vor zwei Jahren zum Beispiel sind gut zehn Meter Schnee gefallen, und der bleibt liegen, den ganzen langen Winter. Manche Häuser, vor allem die baufälligen, halten das nicht aus. So ist das eben.«
Meine Gesprächspartner erzählen ausführlich von den vielen Hotels und Geschäften, die es hier einmal gab; übrig geblieben ist nur dieser Laden. Die meisten anderen haben schon in den dreißiger Jahren Bankrott gemacht und sind aufgegeben worden, wie so viele Unternehmen in Maine. In den achtziger Jahren kam noch eine zweite Schließungswelle. Natürlich sei nicht nur der Schnee schuld an dem Verfall so vieler Gebäude. »Die eingestürzten Häuser, das sind auch die letzten Ruinen der Großen Depression.«
Wir fahren weiter. Es fängt wieder an zu regnen. Die rasenden Flüsse, die wir überqueren, sind von Schaumfetzen bedeckt und führen viel Treibholz mit sich, an manchen Stellen fließt Wasser über die Straße. Aus den Zeitungen erfahre ich, dass dies eine der ärmsten Gegenden im ohnehin strukturschwachen Maine ist.
Die Situation ähnelt der in vielen Teilen Europas: Die Farmen sind nicht verschwunden, aber die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe hat stetig abgenommen, während die verbleibenden durch Übernahmen immer größer wurden. Das geschah auch schon in Steinbecks Zeit – jedes Jahr gaben etwa 2 Prozent der amerikanischen Farmer auf. Zwischen 1980 und 1990 beschleunigte sich dieser Prozess; in nur zehn Jahren hat sich die durchschnittliche Größe der Farmen verdoppelt. Inzwischen gibt es fast keine Kleinbetriebe mehr, und die Folgen sind dramatisch: Die Geburtenzahl geht zurück, die Bevölkerung ist stark überaltert, Geschäfte und Banken schließen, Genossenschaften werden aufgelöst, Kirchen stehen leer.
Bei Kinney’s Garage in Danforth kann ich tanken. Neben mir steht eine ältere Frau mit hellblauen Augen, grauem Haar und Stupsnase. Man kann ihr noch ansehen, wie hübsch und selbstbewusst sie einmal war. Ihr dunkelgrüner, schlammbespritzter Pick-up ist verbeult, und so wirkt auch sie jetzt, der rechte Arm ist gekrümmt und verstümmelt durch irgendeinen grässlichen Unfall. Während auf der Anzeige der Zapfsäule die Gallonen durchticken, blickt sie über das Hügelland, sie vergisst die Zeit, das Benzin läuft über, der Schreck holt sie ins Jetzt zurück.
In Die Reise mit Charley schildert Steinbeck eine wunderbare Szene, in der er mit einer Gruppe frankokanadischer Erntehelfer in Rosinantes Kajüte eine Flasche guten alten Kognak leert – ein fröhlicher, geselliger Abend, genau so, wie er es sich vorgestellt hatte. In den Briefen an Elaine finde ich jedoch keinen Hinweis auf diese Begegnung. Danach war er fast immer allein, in den Rasthäusern an der Straße beugten sich die Männer schweigend über ihren Kaffee, als hätten sie die Geschichten der anderen schon zu oft gehört. »Es ist ganz seltsam«, schreibt er, »ich habe mich noch gar nicht so weit von New York entfernt, und trotzdem kommt es mir
Weitere Kostenlose Bücher