Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Amerika dagegen wurden die Europäer gnadenlos damit konfrontiert. Ausnahmslos reagierten sie entsetzt – was im Übrigen auch etwas darüber aussagt, wie sie Amerika sahen: nicht mehr als eine Kolonie, sondern als Teil der gemeinsamen westlichen Welt.
In einer Sammlung mit Augenzeugenberichten fand ich ein Dokument aus dem Jahr 1829, in dem es um ein amerikanisches Sklavenschiff ging, das von der britischen Marine im südlichen Atlantik aufgebracht worden war. Das Frachtschiff hatte an der afrikanischen Küste 562 Sklaven an Bord genommen, 336 Männer und 226 Frauen, »und war siebzehn Tage auf See gewesen; in dieser Zeit wurden 55 (Menschen) über Bord geworfen«. Die Sklaven waren wie Vieh gebrandmarkt. Sie hockten oder lagen gestapelt in großen Regalen zwischen den Decks, derart zusammengepfercht, dass sie zwischen den Beinen der jeweils anderen saßen, zu so vielen, dass sie sich nicht einmal umdrehen konnten, weder am Tag noch in der Nacht.
»Die Hitze in diesen fürchterlichen Frachträumen war so groß und der Gestank so bestialisch, dass es unmöglich war, sie zu betreten – wenn denn Platz gewesen wäre.« Nachdem den Sklaven für einige Zeit der »ungewohnte Luxus« frischer Luft gegönnt worden war, wurde etwas Wasser gebracht. Es war, als bräche auf einmal ihr ganzes Leiden hervor. »Sie rannten alle wie Wahnsinnige hin. Weder Bitten, noch Drohungen, noch Schläge konnten sie zurückhalten; sie schrien, rangen und kämpften um einen Tropfen dieses kostbaren Nasses, als würden sie beim Anblick des Wassers von Raserei erfasst.« Die Briten konnten nichts dagegen unternehmen, das Schiff fiel nicht unter ihre Gerichtsbarkeit, sie mussten es weiterfahren lassen.
Was aber die Phantasie sowohl der Befürworter als auch der Gegner am meisten anregte, war Amerika als historisches Experiment. Die Unabhängigkeitserklärung hatte, allein schon als politisches Manifest, ganz Europa einen Schock versetzt. Sie war eine wichtige Inspiration für die Französische Revolution, die nationalistischen Bewegungen in Griechenland, Deutschland, Italien und Osteuropa griffen darauf zurück, und das taten auch die politischen Reformer, beispielsweise in Großbritannien.
»Die ganze Gesellschaft ist zu einer Mittelschicht verschmolzen«, schrieb Alexis de Tocqueville vier Tage nach seiner Ankunft in New York. Nicht umsonst gab er seiner zweibändigen Beschreibung der Vereinigten Staaten aus den Jahren 1835 und 1840 den einfachen Titel: Über die Demokratie in Amerika . Demokratie war das, was ihn als freidenkenden Aristokraten am jungen Amerika am meisten faszinierte. Und vor allem war er neugierig auf die Wirkung des Phänomens Demokratie auf die Bürger: Wurden sie wirklich zu anderen Menschen?
Gleich auf der ersten Seite kommt er zur Sache: »Gleichheit der Bedingungen«, das Fehlen von Rängen und Ständen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, war für ihn der »Mittelpunkt, in den alle meine Beobachtungen einmüdeten«. Später nennt er eine ganze Reihe von Beispielen: »Seht ihr diesen schwerreichen Bürger? […] Jetzt aber verläßt er sein Haus, um in einem staubigen Winkel im Innern der Stadt, im Geschäftsmittelpunkt, zu arbeiten, wo jedermann sich ihm frei nähern kann. Unterwegs kommt sein Schuster daher, sie bleiben stehen; sie kommen ins Gespräch. Was mögen sie sich sagen? Diese zwei Bürger befassen sich mit Staatsangelegenheiten, und sie gehen nicht auseinander, ohne sich die Hand geschüttelt zu haben.«
Tocqueville idealisierte die Zustände übrigens durchaus, genau wie die Amerikaner selbst. Im damaligen New York gab es bereits Hunderte extrem reiche Familien, sogar nach europäischen Maßstäben. Die Hälfte allen Eigentums befand sich in der Hand von 4 Prozent der Bevölkerung. Die Geschichte, dass hier jeder sein Vermögen selbst verdient habe, stimmte schon 1831 nicht mehr. Nur wenige waren selfmade men , der übergroße Teil der reichen New Yorker war reich geboren worden und wurde allein aus diesem Grund nur immer reicher.
Die Basis des amerikanischen Ideals bestand natürlich im Fehlen einer etablierten adeligen Oberschicht. Hinzu kamen die riesigen Landflächen, die für jeden zu haben waren, der bereit war, die Ärmel hochzukrempeln. Reich und Arm lebten nebeneinander, genau wie in Europa, aber die amerikanischen Armen hatten nicht vor, arm zu bleiben. Allerdings wollten sie auch nicht den Platz der bestehenden Reichen einnehmen, wie die Revolutionäre in der Alten Welt, nein, sie
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