Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
das soziale Fangnetz weiter ausgebaut, so wie es nach dem Krieg auch in Europa geschah. Selbst jemand wie Dave Lee in Sag Harbor, der mit Sozialismus nichts zu tun haben wollte, war voll des Lobs für die GI Bill, die Millionen von ins Zivilleben zurückkehrende Soldaten mit allerlei staatlichen Hilfen ausstattete. »Die GI Bill war phantastisch. Meine Brüder konnten dadurch studieren, ach, was sage ich, drei Viertel der Leute, die ich kenne, haben Dank der GI Bill einen Hochschulabschluss machen können!« Die Amerikaner gewöhnten sich sogar allmählich daran. Was in den dreißiger Jahren als Fremdkörper empfunden wurde, galt 1960 als ein Recht.
Ab den siebziger Jahren wurde dieses System jedoch nach und nach zurückgefahren. Der demokratische Präsident Jimmy Carter machte den Anfang: Unter seiner Regierung wurde 1978 der Spitzensatz der Einkommenssteuer von 48 auf 28 Prozent gesenkt. 1981 folgte Präsident Ronald Reagan – der übrigens auch eine Reihe von Steuern erhöhte – mit neuen Vergünstigungen und Steuersenkungen, und unter den nach ihm kommenden Präsidenten George H.W. Bush, Bill Clinton und vor allem George W. Bush wurde Steuersenkung zum neuen Glaubensartikel von Millionen amerikanischer Wähler. Umgeben von Flaggen und anderen patriotischen Symbolen schwor ein Politiker nach dem anderen sogar den Taxpayer Protection Pledge : den teuren Eid, nie, aber auch wirklich niemals, auch nur einen Dollar zusätzlich an Steuern erheben zu wollen.
Dabei können sich die Amerikaner in Wahrheit seltsamerweise schon seit langem kaum über die Steuerlast beklagen. Sie bezahlen bedeutend weniger als die Bürger der meisten anderen entwickelten Länder. Viele staatliche Hilfen werden in den USA zudem nicht in Form von finanziellen Zuwendungen geleistet, sondern in Form von Steuervorteilen, vom Kindergeld bis hin zu den gigantischen Steuerbefreiungen für Produkte aus Ethanol.
Dennoch haben sehr viele Amerikaner eine anhaltende, intensive Abscheu gegen Steuern jeglicher Art. Die Präsidentschaft George W. Bushs war dafür das extremste Beispiel: die sündhaft teuren Gratis-Medicare-Medikamente für Senioren, das Führen von zwei Kriegen zur gleichen Zeit, der Aufbau einer riesigen Sicherheitsbürokratie unter dem Namen Homeland Security, die großen und rasch steigenden Kosten für Renten und Pensionen, die Milliardenausgaben, um die Wirtschaftskrise des Jahres 2008 in den Griff zu bekommen – das alles durfte den Steuerzahler keinen zusätzlichen Cent kosten. Im Gegenteil, die Steuern wurden gesenkt. Bush versprach im Angesicht seiner jubelnden Anhängerschaft, von seinen Steuersenkungen für das Jahr 2001 würden alle Amerikaner profitieren. Tatsächlich gingen 51 Prozent der sich aus diesen Maßnahmen ergebenden Steuerersparnis an die Spitzenverdiener, die gerade einmal 1 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Was manche amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler hinterher konstatierten, ist zutreffend: Die Essenz der sogenannten Reaganomics , deren Ausläufer die Politik Bushs darstellte, war kein gerechteres Steuersystem, sondern eine gigantische Einkommensumverteilung, und zwar von Arm nach Reich. Dahinter steckte eine typisch puritanische Theorie: Wer mit irdischen Gütern gesegnet wird, der verbreitet diesen Segen auch in seiner Umgebung. Anders ausgedrückt: Geld ist nicht die Belohnung für harte und kreative Arbeit, Geld treibt zu mehr harter und kreativer Arbeit an. Wenn die Reichen mehr verdienten und weniger Steuern zahlen müssten, so die Philosophie, dann würden sie sich zum Wohle der amerikanischen Wirtschaft noch mehr anstrengen. Der Staat könnte dabei durchaus mit weniger Steuern auskommen: Einsparungen würden von ganz allein zu mehr Effizienz zwingen. Die positiven Auswirkungen dieser Maßnahmen würden anschließend auf die unteren Einkommensgruppen herabträufeln, und am Ende würde es allen besser gehen. Das war die Theorie.
Die Folgen dieser Steuerpolitik waren dramatisch. Die Staatsschulden, die in den sechziger Jahren etwa 270 Milliarden Dollar betrugen und bis 1980 auf rund 1 Billion Dollar anstiegen, explodierten auf mehr als 16 Billionen Dollar im Jahr 2011. Dieser riesige Schuldenberg erwies sich als besonders schwere Belastung, weil die Handelsbilanz der Amerikaner gehörig aus dem Gleichgewicht geraten war: Amerika produzierte Jahr für Jahr weniger, als es konsumierte. Darüber hinaus kam es in der Praxis kaum zu Einsparungen bei den Ausgaben der öffentlichen Hand. Bei den
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