Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Generationen abbildet. In diesem Punkt hinkt Amerika hinterher, anstatt voranzugehen. Tony Judt: »Im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern können Kinder im heutigen Großbritannien (wie in den USA ) kaum damit rechnen, aus den Verhältnissen herauszukommen, in die sie hineingeboren wurden. Arme bleiben arm.«
Aufschlussreich ist die Vater-Sohn-Graphik, die den durchschnittlichen Prozentsatz des Einkommens der Söhne aufzeigt, der mit dem Einkommen des Vaters erklärt werden kann. Anders ausgedrückt: Wie viel haben die Kinder aus eigener Kraft erreicht, und was haben sie ihren Eltern zu verdanken? Im Jahr 1960 waren es in Amerika kaum mehr als 10 Prozent – gemäß dem klassischen amerikanischen Ideal. Im Jahr 2000 waren es fast 35 Prozent – erneut eine Zahl, die eher zu einer traditionellen Ständegesellschaft passt. Zudem gibt es auffällige Unterschiede in der Lebenserwartung: »Die Amerikaner geben viel Geld für ihre Gesundheitsversorgung aus, aber die Lebenserwartung liegt unter derjenigen von Bosnien und nur knapp über der von Albanien.«
Amerika gewöhnt sich daran, das ist das Schlimmste. So wie im Amerika zu Zeiten Tocquevilles die Gleichheitsidee innerhalb weniger Jahrzehnte Gemeingut wurde und sich das Amerika der sechziger Jahre rasch an Lebensmittelgutscheine, Medicare, Medicaid, das Head Start Program und andere »europäische« Errungenschaften gewöhnte, so geschieht jetzt das Gegenteil. Tony Judt: »Dagegen sind Amerikaner und Engländer in dreißig Jahren wachsender Ungleichheit zu der Ansicht gelangt, dass dies ein natürlicher Zustand sei, an dem sie wenig ändern können.«
In einer Zeitung, die ich später in Minneapolis und Saint Paul in die Hände bekam, sah ich die Auswirkungen: In den reichsten Suburbs der Zwillingsstädte beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung 83 Jahre und mehr, in den ärmsten Vierteln liegt sie zwischen 70 und 75. »Dies ist eine Gesellschaft von haves and have not’s « – solche fatalistischen Bemerkungen vernahm ich früher nur in Europa. Jetzt höre ich sie auch hier. Und die Verbitterung wächst.
3
Kanada ist brav, Meile für Meile brav. Es gibt Mädchen, die sind einfach perfekt, die sind so schön und makellos, so ganz ohne Fehler, dass jedes Begehren durch Langeweile und Vorhersagbarkeit erstickt wird.
Wir fahren auf der 3, unmittelbar am Nordufer des Eriesees entlang, eine endlose Landstraße, viele Meilen Mais und Getreide, hin und wieder eine Farm, ein turmhoher Futtersilo, eine Vorratsscheune wie eine rote Kathedrale, dann wieder drei Meilen kahle, nasse Äcker. Die Wohnhäuser der Farmen sind bescheiden, der Betrieb geht über alles, etwas anderes ist kaum vorstellbar. Alles ist wie gestriegelt, Haus für Haus, die Haare sind geschnitten, die Pickel wegmassiert, als trügen die Farmen zu jeder Zeit den Sonntagsstaat. Und überall die niederländischen Namen, die zu dieser Szenerie passen: Ted Hessels, John Dekker, Richard Dijkstra.
Es ist ein ordentliches und anständiges Land. Hier gibt es mindestens so viele Gewehre wie in den Vereinigten Staaten. Aber die Zahl der tödlichen Opfer durch Schusswaffengebrauch ist mehr oder weniger identisch mit der in Europa, zwischen 1 und 1,5 pro 100 000 Einwohner. In Amerika sind es 5,3, vier- bis fünfmal so viele. Die Bilder des amerikanischen Dokumentarfilmers Michael Moore, der im Rahmen seiner Recherchen in Sachen Feuerwaffen von Flint aus kurz über die kanadische Grenze fuhr, habe ich immer noch vor Augen. Eine Stunde weiter sind auf einmal keine Schlösser mehr an den Türen, und die Menschen benutzen ihre Gewehre nur für das, wozu sie gedacht sind: zur Jagd auf Wild, nicht auf Menschen.
Es wird dunkel, und es regnet in einem fort. Tillsonburg. Ein düsteres Motel, an der Rezeption eine freundliche Vietnamesin. Wir gehen in die kleine Stadt. Auf dem Broadway ist kein Mensch zu sehen. Aus der Ferne schallt Jodelmusik über den stillen Asphalt. Sie kommt aus einem Schweizer Familienrestaurant, in dem niemand sitzt außer einem behäbig kauenden Ehepaar. Ebenfalls Schweizer, hier aus der Gegend. Einmal Heimweh, immer Heimweh, wir kauen schweigend mit.
Am nächsten Morgen wird der Frühstücksraum vom Fernseher dominiert. Es entfaltet sich eine sonnenüberflutete Szenerie, eine staubige Dorfstraße, ein weißes, mit Efeu bewachsenes Haus, ein Mann tritt nach vorn und singt ein Lied. Das Ganze muss irgendwo in Mitteleuropa sein, mitten im Clip erscheint eine alte Mutter am Fenster, sie
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