Amerikanische Reise
werden mußte, um die Leitung freizugeben. Beim nächsten Mal legte Jan
den Hebel wie nebenbei um, als hätte er nie ohne diesen Handgriff getankt.
Jetzt sieht er Kristin an, die aufgewacht ist, als spüre sie das Ende der Fahrt. Sie sieht benommen auf die einwärts gebogenen
Straßenlaternen, die ein Spalier bilden wie das Gerüst eines in die Manege führenden Raubtiertunnels. Die Häuser sind nur
noch dunkle, massive Quader in der Dämmerung, terrassenförmig absteigende Scherenschnitte vor dem tiefblauen Hintergrund.
Neben ein paar Schornsteinen behauptet sich ein offener kleiner Kirchturm mit einer frei hängenden Glocke und einer Zwiebelspitze
darüber. Jan versucht, sich das Läuten vorzustellen: der Klang einer Triangel im Maschinenraum der Moderne.
Das nahe Ende der Fahrt beunruhigt Jan. Sie haben die lange, gleichförmig verflossene Zeit nur genutzt, um über Walter zu
reden; und sie haben über Walter geredet, um nicht über sich reden zu müssen, über die hinter ihnen liegende Woche und vor
allem nicht über die letzte Nacht in dem Holzbungalow. Und sie haben nicht über Kristins Schwangerschaft geredet. Jan fragt
sich, ob es noch Kinder gibt, die einfach so zur Welt kommen, ohne komplizierte Vorgeschichte.
Kristin konnte sich vorstellen, ein Kind zu haben, und sie konnte es sich nicht vorstellen. Die Aussicht allerdings, nie ein
Kind zu haben, erschreckte sie. Im Moment vermißte sie nichts, aber wer garantierte, daß dies so blieb? Sie nahm an, daß ihr
zur Zeit die Versorgung eines Säuglings keine große Freude bereiten würde. Sie hatte erlebt, wie aus Freundinnen in kurzer
Zeit schwer ansprechbare |102| Servicestationen geworden waren, unablässig um das Kind kreisende Fütterungs- und Waschbedienstete, die zwar darauf hinwiesen,
daß es schön, mitunter beeindruckend sei, die Entwicklung ihrer Kleinen zu verfolgen, aber Kristin war mißtrauisch. Sie zweifelte
nicht an den schönen Momenten, aber sie war unsicher, ob diese den auf der anderen Seite erlittenen Verlust aufzuwiegen vermochten.
Gleichzeitig war ihr bewußt, daß die Forderung nach einem Ausgleich bereits falsch war. Ein Säugling und Kleinkind war immer
eine Einschränkung. So gesehen war ihr klar, daß die Strategie, auf den richtigen Zeitpunkt für ein Kind zu warten, nicht
aufgehen konnte: Es gab diesen Zeitpunkt nicht. Alle Überlegungen endeten somit immer bei der Frage, ob man ein Kind
wollte
oder eben nicht. Sie wußte es nicht.
Außerdem war ihr klar, daß Walter für diesen Konflikt keine Hilfe sein würde. Den Glauben daran, man könnte mit den Männern
gemeinsam etwas organisieren, das beiden Seiten ein maximales Maß an Freiheit erhielt, hatte sie nicht. Immer waren es die
Frauen, an denen alles hängenblieb, unabhängig davon, was vorher verabredet worden war – wobei Kristin für diesen Zustand
nicht allein die Männer verantwortlich machte: War das Kind erst einmal da, glitten viele Frauen merkwürdig widerstandslos
in ihre Rolle. Und letztlich hatte sie Angst davor, daß es ihr genauso gehen könnte, daß alles den Gang gehen würde, den es
schon immer gegangen ist. Gleichzeitig wollte sie nicht einsehen, daß die Konsequenz nur sein konnte, kinderlos zu bleiben.
Je mehr sie darüber nachdachte, um so klarer wurde ihr, daß der Konflikt unlösbar war, daß er nicht die Struktur einer mathematischen
Aufgabe hatte, sondern die eines Paradoxons: Wenn man annimmt, eine Aussage sei wahr, läßt sich damit beweisen, daß sie falsch
ist, und |103| nimmt man an, sie sei falsch, kommt heraus, daß sie wahr ist – ein Widerspruch, der so lange unauflösbar ist, bis die Natur
Fakten schafft, und sei es durch eine Unaufmerksamkeit, einen Rechenfehler.
Sie nähern sich einer Maut-Station. Jan bezahlt, und dann tauchen sie in einen Tunnel mit Leuchtstoffröhren an der Decke,
eine Lichtnaht, der Jan folgt. Seine eigene Phobie, er könne Vater werden, war verbunden mit der Befürchtung, alle Frauen
sehnten sich irgendwann nach einem Kind. Er war überzeugt, daß sich sämtliche Vorstellungen von Freiheit und selbstbestimmtem
Leben bis spätestens Mitte Dreißig auflösten, weil keiner wußte, wozu er das eigene Selbst bestimmen sollte. In dieser Situation,
dessen war Jan sicher, aktivierten sich genetisch und gesellschaftlich fest verwurzelte Programme, und eines der ältesten
und grundlegendsten war der Drang, sich fortzupflanzen, das eigene Erbgut und die eigenen
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