Amerikanische Reise
Drugstores, Friseuren
und Lebensmittelläden.
Er hatte gehofft, der Morgen in den Straßen würde ihn von allem ablenken, aber das Hin und Her zwischen seiner Vorstellung
von New York und der Alltäglichkeit des Stadtlebens ist zu unruhig, um ihn einfach nur dasein zu lassen, und seine Gedanken
kehren immer wieder zu dem gestrigen Abend zurück, zu Walter, der seine Geschichte erzählt.
Jan ist nicht entrüstet. Es gelingt ihm nicht, sich in Cindy zu versetzen, die er nicht kennt. Ihr Leiden bleibt für ihn abstrakt.
Er hält Walter zwar für schuldig, aber nicht aus Empörung heraus, sondern weil er weiß, daß es so nicht geht, daß es nicht
zu rechtfertigen ist, derart die Kontrolle zu verlieren. Jan kann die Geschichte im Moment nur in bezug auf seine eigene Situation
sehen: Er ist nicht mehr der unbeteiligte Gast, der er gerne wäre. Sollte Walter sein Geständnis gegenüber Kristin wiederholen,
wäre es ein |131| Gebot der Fairneß, auch über das zu reden, was vor drei Tagen war, zweitausend Kilometer entfernt.
Jan hat es sich immer als eine Art Tugend angerechnet, daß er, egal, in welcher Situation, bisher weitgehend mit offenen Karten
gespielt hat. Ob im Beruf oder in seinem Verhältnis zu Frauen – er hat verdeckte Spiele nie gemocht. Was den Beruf anging,
war ihm klar, daß er damit seine Möglichkeiten deutlich beschränkte. Bei Frauen nicht, so war es jedenfalls bisher. Er konnte
sich nicht vorstellen, ein kompliziertes Geflecht von Liebschaften – möglicherweise in Konkurrenz zu anderen Männern – zu
unterhalten. Es gab Tage, da hat er morgens und abends jeweils mit einer anderen Frau geschlafen, aber anstatt daraus eine
einfältige Befriedigung seiner Männlichkeit zu ziehen, haben ihn diese Tage zumeist merkwürdig leer zurückgelassen. Das mechanische
Zähneputzen am nächsten Morgen erschien ihm dann wie ein Sinnbild für alles, was er den Tag über tun würde. Er verließ unter
irgendeiner Ausrede, und ohne Kaffee zu trinken, die Wohnung und ging durch die Stadt. Hinterher war er fast froh, wenn es
auf der Welt zu einer Katastrophe gekommen war, deren Nachrichtenschwemme ihn für ein paar Stunden ablenkte. Fast allen Frauen
sagte er, sie sollten ihn in der Redaktion nicht anrufen.
Jetzt gibt es keine Redaktion, in die er flüchten könnte. Er geht vorbei an Mülltonnen, deren verbeulte Blechdeckel an den
Hauswänden festgekettet sind. Die Hydranten wachsen wie metallene Baumstümpfe an den Straßenecken aus dem Zement. Unter den
meisten Fenstern der Altbauten hängen die staubgrauen Kästen der Klimaanlagen wie an die Wand montierte Hamsterkäfige – schwer
vorstellbar, in New York könnte es noch Luft geben, die nicht durch irgendwelche Rohre oder Ventilationssysteme |132| gelaufen ist. Die gelegentlich am Straßenrand gepflanzten Bäume sind fast alle jung, als müsse man sie regelmäßig erneuern.
Kaum welche haben echte Kronen, bei den meisten reicht es nur zu ein paar vom Stamm ausgehenden begrünten Tentakeln.
Eine heftige Bewegung ein paar Meter vor ihm erregt Jans Aufmerksamkeit. Ein älterer Mann greift sich an die Hosentasche,
ein Jugendlicher rennt weg und ist schon um die nächste Ecke. Der Alte sieht dem Jungen nach:
Son of a bitch!
flucht er und stellt fest, daß seine Hose fast bis zum Knie eingerissen ist. Er schüttelt noch einmal den Kopf, dann geht
er weiter und hält den herunterhängenden Stofflappen mit der Hand fest, damit es nicht zu lächerlich aussieht.
Fünf Minuten später dann eine andere Szene: Eine Passantin niest, ein ihr entgegenkommender Mann wünscht ihr Gesundheit, sie
dankt mit einem kurzen Lächeln, und beide gehen aneinander vorbei, haben ihren Gang nicht einmal verzögert.
New York sickert allmählich in Jans Wahrnehmung. Die Gedanken an Walter und Kristin rücken in den Hintergrund, lösen sich
auf in der Hoffnung, daß sich schon alles irgendwie klären werde, daß er in einer Woche sanft zurückgleiten wird in sein Leben
in Deutschland. Er wird erzählen, wie beeindruckend die Stadt ist, wie einen die Gegensätze überwältigen, wie verblüffend
die unterschiedlichsten Kulturen den Alltag prägen und wie es einen reizt, eine Zeit selbst hier zu leben – er wird erzählen,
was alle schon wissen.
Jan überquert den Broadway. Als er mit Kristin über Land gefahren ist, hat er sich gewundert, daß es fast in jeder kleineren
Stadt einen Broadway gab. Allerdings keine Theater. Irgendeine der
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