Amerikanische Reise
großen Shows sollte er besuchen, |133| denkt Jan, der in Deutschland aus eigener Initiative fast nie ins Theater geht, weil er sich, wenn er doch einmal eine Aufführung
besucht, fast immer langweilt. Während sich die Schauspieler auf der Bühne Mühe geben, Seelennöte darzustellen, blättert er
im Programmheft, was weniger an den Schauspielern liegt, sondern an den Nöten selbst, die ihm durchweg fünf Nummern zu groß
vorkommen. Hätte man selbst einmal in einer Todeszelle gesessen, könnte es möglicherweise interessant sein zu erfahren, was
in Danton kurz vor seiner Hinrichtung vorgegangen ist, aber wenn die brenzligste Situation im Leben ein Blechschaden ist,
weil einem jemand die Vorfahrt genommen hat, ist der Kerker nichts als ein Museumsstück.
Es ist Jan immer vorgekommen, als sei das Theater eine Einrichtung für Zwanzigjährige und nicht, entsprechend der Tradition
in Deutschland, eine Bildungsinstitution für das Bürgertum. Wenn er junge Menschen im Parkett und auf den Rängen sah, hatte
er Verständnis dafür, daß sie auf der Suche nach Dramatik für das eigene Leben im Theater nach großen Emotionen Ausschau hielten
wie Jugendliche, die von Autorennen fasziniert sind, solange sie noch keinen Führerschein haben. Nach fast zwanzig Jahren
Stadtverkehr dagegen sieht man die Dinge anders.
Jan erreicht eine hüfthohe Mauer, an der die Straße endet. Vor ihm liegen ein paar kaum genutzte Docks und der Hudson River.
Er steigt eine Treppe hinunter und schlendert über das Kopfsteinpflaster, in das hier und da rostige Schienen eingelassen
sind. Die Anlagen zum Löschen der Frachten und die Lagerschuppen machen einen heruntergekommenen Eindruck. Jan bleibt vor
einer Bank mit abgeblätterter Farbe stehen. Die Umgebung erinnert ihn an die, in der Kristin sich von Rick hat fotografieren
lassen mit übergeworfenem Männertrenchcoat, der ihr über eine |134| Schulter gerutscht ist. Sie könnte auf dieser Bank gesessen haben, denkt Jan, aber vermutlich gibt es in New York ungezählte
Ecken wie diese, halb verlassen und aus der Zeit gefallen.
Jan setzt sich auf die Bank und stützt die Arme auf die Knie, als könne er, indem er Kristins Haltung einnimmt, verstehen,
was sie damals gedacht hatte. Rick muß sie gebeten haben, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und den Mantel von der Schulter
zu streifen, und da sie wohl kaum wirklich nackt darunter war, mußte sie ein paar Knöpfe ihrer Bluse öffnen, um diesen Eindruck
zu erwecken.
Jan stellt sich vor, wie sie verschiedene Haltungen ausprobiert. Vielleicht, denkt er, hat Walters Eifersucht auf Rick darin
ihren Grund, daß das Foto mehr andeutet, als er jemals von ihr bekommen hat: Sexualität als Verführungsspiel. Es könnte sein,
daß Walter statt dessen in simplen Kategorien denkt: manuell, genital, oral, anal. Wahrscheinlich, vermutet Jan, hätte er
von Cindy auch ohne Gewalt alles bekommen. Möglicherweise glaubte Walter, das Machtspiel zwischen den Geschlechtern habe sich
verlagert von der Frage,
ob
man miteinander ins Bett geht, zu der Frage,
wie
man miteinander ins Bett geht, welche Kategorien man einander gewährt. Vielleicht hatte er von Kristin nur die ersten bekommen,
und seine Reaktion in dieser Nacht war nichts als die Angst, es könne auch diesmal wieder dabei bleiben. Es ging gar nicht
um Neil, und es ging nicht um die Zweihunderttausend. Es ging darum, so absurd es klingen mochte, daß Walter
nicht
skrupellos war. Weder im Geschäft noch privat. Er hatte nicht mit allen Mitteln Geld gemacht, um sich einfach zu kaufen, was
er von seiner Frau nicht bekommen konnte. Er hat getreu seinem Glauben an den Kapitalismus fair gespielt, und selbst, als
der Goldschatz vor ihm lag, hat er ihn lange Zeit |135| nicht angerührt. Und als er zugegriffen hat, ist es schiefgegangen. Vielleicht war es nur der Wunsch,
einmal
mehr zu bekommen als sonst, der ihn die Kontrolle hat verlieren lassen, als er Cindy nackt zwischen seinen Beinen sah. Im
Grunde, denkt Jan, hat ihn seine Anständigkeit – oder das, was er unter Anständigkeit versteht – dorthin gebracht, wo er jetzt
steht.
Jans Gedanken kehren noch einmal zu dem Foto von Kristin zurück, und es geht ihm durch den Kopf, daß es noch andere Aufnahmen
geben muß, die hier entstanden sind. Kein Fotograf macht nur eine Belichtung, sondern sie machen immer gleich ein paar Filme.
Sie probieren alles aus, was dem nahe kommen könnte, was sie als Bild im Kopf
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