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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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haben. Und die in der Galerie ausgestellten
     Bilder legen nahe, daß Rick nicht bei Kristins Schulter geblieben ist. Eine andere Geschichte des Bildes erscheint Jan jetzt
     viel wahrscheinlicher, weil sie sich mit dem deckt, was ihm verschiedentlich Fotografen erzählt haben: daß die besten Bilder
     oftmals dann entstehen, wenn man sie gar nicht machen will – in den Aufnahmepausen, am Ende. Eine Pause vielleicht, in der
     Kristin den Mantel nur über ihre Haut geworfen hat, um nicht zu frieren.
     
    Kristin öffnet, und Jan betritt den Flur. »Ausgeschlafen?« fragt er.
    Sie nickt. »Du bist früh aufgestanden.«
    »Um sieben.«
    Kristin sieht erschöpft aus, als hätte sie bereits gearbeitet. Die Ringe unter ihren Augen sind dunkler als sonst. Obwohl
     Jan eine Woche mit ihr unterwegs gewesen ist, kommt es ihm vor, als sei sie über Nacht noch hagerer geworden.
    »Kaffee?« fragt sie.
    |136| Jan nickt. »Gerne.« Er geht ins Wohnzimmer. »Ist Walter nicht da?«
    »Er ist in der Bank. Sie haben ihn ja noch nicht entlassen. Er sagt, er will die Sache heute regeln.«
    Jan setzt sich auf die Couch, die er morgens als Bett zurückgelassen hat. »Hat er eine Chance?«
    Kristin kommt aus der Küche. Das Hemd, das sie wie immer über der Jeans trägt, ist zerknittert. Ihre Haare hat sie hinter
     dem Kopf zusammengesteckt, und im Moment kommt sie Jan vor wie eine Wissenschaftlerin, die sich um ihr Äußeres wenig kümmert.
    »Ich glaube«, sagt sie, »er will ihnen vorschlagen, daß sie ihm die Zweihunderttausend als Kredit geben und er den Betrag
     dann abstottert.« Sie setzt sich. Aus ihrem Ton schließt Jan, daß sie nicht an den Erfolg dieses Plans glaubt.
    »Welchen Grund hätten sie, ihm entgegenzukommen?« fragt er und denkt, daß es nicht sehr einfühlsam ist, Kristin in ihren Zweifeln
     zu bestärken.
    Sie hebt die Schultern. »Er will versuchen, den Hergang der Geschichte aufzuklären. Er wird seinen Teil der Schuld auf sich
     nehmen, aber gleichzeitig darauf hinweisen, daß nicht er, sondern Neil letztlich verantwortlich ist. Er vermutet, daß man
     sich über die Illegalität der Geschichte relativ wenig Gedanken macht, im Gegenteil, daß die Illegalität für ihn fast noch
     ein Trumpf ist, weil damit der Ruf der Bank auf dem Spiel steht.«
    Jan nickt. Vielleicht, denkt er, ist das bereits die Lösung: Walter bekommt seinen Kredit und behält seine Geschichte für
     sich, so wie Kristin die ihre. Und er, Jan, kehrt in ein paar Tagen zurück nach Deutschland.
    Die Kaffeemaschine beginnt zu röcheln, Kristin geht in die Küche. Jan steht auf und sieht aus dem Fenster. Daneben steht der
     Monitor, auf dem wieder die Sterne des Bildschirmschoners |137| quellen. Jan dreht sich um, und sein Blick fällt auf das Foto von Kristin. Vielleicht, denkt er, sollte er sie fragen, wie
     es entstanden ist.
    Sie kommt mit zwei Tassen zurück. »Walter glaubt«, sagt sie, »daß es der Bank darum geht, den Schaden zu begrenzen und zu
     verhindern, daß auch nur ein Hauch der Geschichte an die Öffentlichkeit gelangt.«
    Jan setzt sich wieder und nickt. »Gut möglich.« Er versucht sich selbst einzureden, daß Walters Optimismus gerechtfertigt
     ist.
    Kristin trinkt ihren Kaffee und schweigt. Jan kann ihre Stimmung nicht recht einordnen. Er hat den Eindruck, sie ist nur zur
     Hälfte bei dem Gespräch. »Ich glaube«, sagt sie schließlich, »sie werden ihn dazu zwingen, das Land zu verlassen, und statt
     dessen lieber auf das Geld verzichten. Was sind zweihunderttausend Dollar für eine Bank! Gerade wenn ihr Ruf auf dem Spiel
     steht, werden sie ihn möglichst weit weg haben wollen.«
    Jan wäre es lieber, das Thema zu beenden. Er weiß, daß sie recht hat, möchte es aber im Moment nicht wissen. »Könntest du
     dir denn vorstellen, zurück nach Deutschland zu gehen?« sagt er und hofft damit, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.
    Kristin überlegt. Jan hat den Eindruck, sie ist gerade im mathematischen Teil ihrer Persönlichkeit, und er ist erstaunt über
     die Diskrepanz zwischen der Frau vor ihm und der auf dem Foto im Hintergrund.
    »Wenn ich ehrlich bin«, sagt sie schließlich, »habe ich schon länger das Gefühl, daß die Staaten für mich eine Sackgasse sind.«
     Sie winkelt ein Bein an und steckt den Fuß in die Kniekehle des anderen. Ihre bloßen Füße, denkt Jan, sind das einzige, was
     noch in Übereinstimmung zu dem Foto steht; alle Sinnlichkeit hat sich in Fesseln, |138| Knöchel und Zehen

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