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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Gläubigen
     oder ohne sie, erscheint ihm stets entwürdigend. Er hat nichts dagegen, daß man die angenehmen Dinge des Lebens ritualisiert,
     aber gebeugte Häupter, Unterwürfigkeit und Entindividualisierung in die Form eines Rituals zu bringen, stößt ihn ab.
In God We Trust
steht auf dem Dollar, aber nichts in New York hat mit Gott zu tun, weder das
World Trade Center
noch die Nagelstudios an jeder Straßenecke.
    |156| Auf beiden Seiten der Straße flimmern jetzt die gleichen Neonschriftzüge:
live nude, XXX-video, european, oriental, spanish, asian, lesbian, amateur.
Die Reklamefassaden und die Häuser darüber wirken billig. Den Straßenzug durchweht nicht der lockende Hauch eines Erotik-Las
     Vegas, sondern die traurige Verkommenheit eines gedopten Reizwäschewühltischs. Hier und da strecken Bettler am Straßenrand
     den wenigen Passanten ihre
McDonalds -
Pappbecher entgegen, schütteln die paar Münzen darin und bitten um
change.
Nach dem, was ihm Kristin über die Gepflogenheiten in den New Yorker Diskotheken erzählt hat, überrascht Jan die Provinzialität
     des Straßenzugs. Ein echtes Rotlicht-Viertel kann es nicht sein, und er weiß nicht, ob es so ein Viertel in New York überhaupt
     gibt. Verglichen mit dem
real fucking on stage,
das in Amsterdam angekündigt wurde, geht es hier jugendfrei zu:
Peep Show 25¢.
    In Jans Leben gibt es keine Verwendung für Sexshops. Jetzt, da ihn ihre Fassaden zu locken versuchen, wird ihm bewußt, daß
     sie darin Kirchen gleichen. Er vermißt keine Heilslehre, und ihm fehlt nichts beim Sex. Der Grundmythos des Christentums erscheint
     Jan indiskutabel: einen Mann zu verehren, der nackt ans Kreuz geschlagen ist – also das Leiden zu verehren. In dem Sexshop
     ist ein ganzes Regal mit Videokassetten bestückt, die den Cover-Bildern nach in den Kerkern des Herodes entstanden sein könnten:
     Ans Kreuz gebundene Männer und Frauen mit Nadeln in Brustwarzen und Genitalien. Auspeitschungen und Penetrationen am Pranger.
     Begattungszeremonien von angeketteten Froschmännern und mit verbundenen Augen gesenkten Hauptes knienden Frauen – die Menschen
     mögen das Interesse an weißen Messen verloren haben, das an schwarzen dagegen nimmt zu, und solange dies der Fall ist, kann
     die Kirche hoffen.
    |157| Jan wendet sich den Regalen mit der Swimmingpool- und Schlafzimmer-Pornografie zu, in denen keine Kassetten mit Auspeitschungen
     mehr zu finden sind. In der Lasterhöhle herrscht Ordnung. Die Bilder auf den Kassettenhüllen, wenn sie sich auf zwei Darsteller
     beschränken, decken sich – sieht man von den Pools und den Einrichtungen ab – hier und da mit Jans Erfahrung. Er bleibt vor
     einer Kassette stehen, die Walter und Cindy zeigen könnte: ein Mann auf einer Bettkante und eine Frau mit langen blonden Locken,
     die zwischen seinen Beinen kniet. Walter hätte sie freilassen können, und alles wäre zu einem normalen Ende gekommen. Aber
     irgend etwas hatte ihn dazu getrieben, sie auf das Bett zu zerren und mit Gewalt zu nehmen. Er selbst glaubt, es sei die Rache
     an Neil gewesen, die ihn dazu getrieben hat, aber vielleicht wollte er nur einmal haben, was hier herumstand. Für ein paar
     Dollar.
    Jan verläßt den Sexshop wieder. Er geht die Straße entlang wie manchmal, wenn ihn eine innere Spannung abends aus dem Haus
     an irgendeinen Tresen treibt. Meist kreisen seine Gedanken um einen unbekannten, noch zu entdeckenden Frauenkörper – jetzt
     um die weiße Schlankheit von Kristin. Ihr Bild vermischt sich mit den Reißbrettfantasien der
Calvin-Klein -
Welt, deren kühle, unbeteiligte Schwarzweißkörper New Yorks Straßen durchsetzen. Jan entdeckt eins der Plakate am Eingang
     des Busbahnhofs, den die zwei Augen des Models ebenso leidenschaftslos überblicken wie den Verkehr, die wenigen Passanten,
     die Nacht. Jan bleibt vor dem Bild stehen, und es kommt ihm vor, als werde der Schwarzweißblick der beiden Augen lebendig,
     als stünde Kristin vor ihm, und sie geht neben ihm her, während er Walter und Cindy im Sexshop zurückgelassen hat. Es herrscht
     kaum Betrieb in der Haupthalle des Busbahnhofs, die Kioske starren in eine kundenlose Leere, |158| niemand will die Stadt verlassen, niemand will hinein – eine von keiner Institution verordnete Quarantäne. Die Nacht hat alle
     eingeschlossen und umstellt mit dem Zwang, die Möglichkeiten zu nutzen, die der Tag nicht bietet. Alle sind auf der Suche
     nach dem Ort, an dem die Models von ihren Plakaten herabsteigen

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