Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
haben Sie selbst gesagt. Wir müssen einfach weiterermitteln.«
Sie versteht nicht. Rachel hatte die Antworten. Sie wollte mir erzählen, was passiert ist.
»Er hat nie die Absicht gehabt, Sie mit ihr sprechen zu lassen. Wir müssen einen anderen Weg finden.«
»Wenn ich ihr eine Nachricht zukommen lassen könnte…« Plötzlich hebt sich der Vorhang der seltsamen chemischen Dumpfheit, und ein Gesicht tritt mir vor Augen – eine Frau mit dunkelbraunen Haaren und einem Muttermal wie ein Karamellklecks am Hals. Kirsten Fitzroy – Rachels beste Freundin und ehemalige Nachbarin.
Manche Frauen haben vom Tag ihrer Geburt an einen besonderen Blick. Als wüssten sie ganz genau, was man gerade denkt, und als würden sie es immer wissen. So war Kirsten. In den Tagen nach Mickeys Verschwinden war sie der Fels, an den Rachel sich klammerte; sie beschützte sie vor den Medien und kochte für sie.
Kirsten konnte ihr eine Nachricht zukommen lassen. Sie konnte herausfinden, was geschehen war. Ich weiß, dass sie irgendwo in Notting Hill wohnt.
»Ich kann die Adresse besorgen«, sagt Ali und hält am Straßenrand, bevor sie eine Kurzwahl in ihr Handy eintippt und garantiert »New Boy« Dave anruft.
Zwanzig Minuten später parken wir vor einem großen, weiß gestrichenen, georgianischen Haus im Ladbroke Square, vis-àvis vom öffentlichen Park. Die Seitenstraßen sind von bonbonfarbenen Häusern, Cafés und Gartenrestaurants gesprenkelt. Kirsten hat sich verbessert.
Ihre Wohnung liegt im dritten Stock mit Blick auf die Straße. Auf dem Treppenabsatz bleibe ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Dabei fällt mir auf, dass die Wohnungstür offen steht. Ali späht instinktiv alarmiert im Treppenhaus umher.
Ich stoße die Tür auf und rufe Kirstens Namen. Keine Antwort.
Das Schloss ist beinahe abgerissen worden, Holzsplitter liegen auf dem Boden. Im Flur sind wahllos Papiere und Kleidungsstücke auf den Seegrasmatten verstreut.
Ali öffnet ihr Halfter und bedeutet mir, mich nicht von der Stelle zu rühren. Ich schüttele den Kopf. Es ist leichter, wenn ich ihr Rückendeckung gebe. Sie wirbelt durch die Tür, geht in die Hocke und blickt den Flur hinunter zur Küche. Ich betrete nach ihr die Wohnung und gucke in die andere Richtung zum Wohnzimmer. Möbel sind umgestürzt, und irgendjemand hat die Sofas mit einem Samuraischwert aufgeschlitzt. Die Polsterung quillt hervor wie die Eingeweide eines geschlachteten Tieres.
Zerrissene Reispapierlampenschirme liegen auf dem Boden, Wasserpflanzen verdorren am Boden einer trockenen Schale, ein japanischer Paravent ist in Einzelteile zerlegt worden.
Wir gehen von Zimmer zu Zimmer und stoßen auf weitere Verwüstung. Auf dem Küchenboden türmen sich Nahrungsmittel, Küchen- und Haushaltsgeräte liegen zwischen umgestülpten
Schubladen aus offenen Schränken und einem zertrümmerten Stuhl, auf dem jemand gestanden haben muss, um die Flächen auf den Schränken zu inspizieren.
Zunächst wirkt es wie Vandalismus und nicht wie ein Einbruch. Doch dann fallen mir in dem Chaos mehrere Umschläge ins Auge. Die Absender sind sorgfältig rausgerissen worden. Neben dem Telefon findet sich weder ein Kalender noch ein Adressbuch. Irgendjemand hat sich auch die Mühe gemacht, sämtliche Notizen und Fotos von der Korkpinnwand zu entfernen, nur abgerissene Fetzen unter farbigen Nadeln sind übrig.
Das Morphium hat mein Realitätsempfinden beeinträchtigt. Ich gehe ins Bad und spritze mir Wasser ins Gesicht. Über dem Handtuchhalter hängen ein Handtuch und ein Hemd, ein Lippenstift ist in die Badewanne gefallen. Ich hebe ihn auf, ziehe die Kappe ab, halte ihn wie ein Stück Kreide und starre auf die Spitze.
Über dem Waschbecken hängt ein leicht geneigter Spiegel in einem Rahmen mit Perlmuttintarsien. Ich habe abgenommen. Meine Wangen sind hohl, meine Augenwinkel von tiefen Falten gezeichnet. Oder vielleicht ist die Person im Spiegel auch jemand anders. Eine Replik von mir, oder ich bin in einem leicht veränderten Paralleluniversum gefangen. Die wirkliche Welt liegt auf der anderen Seite des Spiegels. Ich spüre, wie die Wirkung des Opiats langsam nachlässt.
Während ich den Lippenstift wieder aufs Regal stelle, staune ich über die Sammlung von Cremes, Lotionen, Puder und dergleichen. Aus einem der Gefäße steigt mir Kirstens Duft in die Nase, und unsere erste Begegnung in den Dolphin Mansions am Tag von Mickeys Verschwinden fällt mir wieder ein.
Kirsten war groß und schlank und trug
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