Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
zur Miete suchen. In der Anzeige geben Sie eine Handynummer für die weitere Kommunikation an.
Sie müssen immer ans Telefon gehen. Und nur Sie. Meldet sich jemand anderes, stirbt Michaela.
Verhandlungen sind nicht möglich, Entschuldigungen werden nicht akzeptiert. Bei Einschaltung der Polizei ist der Ausgang klar. SIE HABEN EINE CHANCE.
Der Brief ist säuberlich getippt und offenbar mit einem Laserdrucker ausgedruckt worden. Auch wenn es diesmal keine Versuche gibt, eine kindliche Handschrift zu imitieren, ist die emotionale Erpressung massiv.
Ich habe die Anzeige aufgegeben. Ich habe mir ein Handy besorgt. Ich muss geglaubt haben, dass Mickey noch lebt. Vielleicht war es kein schlüssiger Beweis, sondern das Gewicht vieler Indizien, das mich überzeugt hat. Wir haben Howard aufgrund von Indizien verurteilt, und vielleicht habe ich Mickey nun auf der Basis von Anekdoten und Andeutungen wiederbelebt.
»Das ist zumindest eine Bestätigung«, sagt Ali, als sie den Bericht über die DNA-Analyse liest.
»Aber die Geschichte bleibt dieselbe. Campbell wird weder die Ermittlung wieder aufnehmen noch Fehler eingestehen, die wir gemacht haben. Die Kriminaltechniker, Anwälte, Polizeizeugen und Politiker werden Howards Verurteilung nicht infrage stellen.«
»Kann man ihnen das verübeln? Wollen Sie ihn wirklich in die Freiheit entlassen?«
»Nein.«
»Nun, warum machen wir das hier dann?«
»Weil ich nicht glaube, dass die Lösegeldforderung ein Schwindel war. Ich glaube, Mickey lebt! Warum hätte ich sonst alles aufs Spiel setzen sollen?«
Ich starre zu einer überdachten Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite, wo ein junges Mädchen von kaum zwölf Jahren sehnsüchtig die Straße hinunter- und dem 11.15-Bus entgegenblickt, der nicht vor 11.35 Uhr eintreffen wird.
Es geht nicht um Howard. Begründeter Zweifel, Schuld oder Unschuld sind mir egal. Ich will einfach nur Mickey finden.
Ein Gewitter zieht auf. Die Luft ist so geladen, dass Strähnen von Alis Haaren sich wie von unsichtbaren Drähten verstärkt aufrichten. Wenige Minuten später prasseln Regentropfen wie Murmeln auf unsere Windschutzscheibe, die Gullys sind vom Laub verstopft. Sei es die globale Erwärmung, sei es der Klimawandel, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass es früher solche Wolkenbrüche gegeben hat.
Die Reifen des Vauxhall surren über den feuchten Boden. Ali hat eine Art, sich beim Fahren zu konzentrieren, als würde sie ein Videospiel spielen. Sie schien jederzeit damit zu rechnen, dass irgendjemand eine rote Ampel überfahren oder plötzlich vom Bürgersteig auf die Straße springen könnte.
Wir überqueren die Tower Bridge, halten uns in östlicher
Richtung an die A2, kommen durch Blackheath und Shooters Hill und erreichen schließlich Dartford. Es hat aufgehört zu regnen, aber der graue Himmel hängt tief. Ein kalter Wind wirbelt Papierfetzen auf den Bürgersteigen auf.
Dies ist eine echte englische Vorstadt, mit Ligusterhecken und pfützengroßen Vogelbädern. Ich kann sogar den Rasendünger riechen und durch Panoramafenster drei Häuser entfernt das Fernsehprogramm verfolgen.
Der White Horse Pub wirbt mit einem ganztägigen Frühstücksangebot, öffnet jedoch erst mittags. Ich spähe durch das Fenster und sehe einen leeren Tresen, die Stühle auf den Tischen, einen Staubsauger auf einem roten Teppich, ein Dartboard und entlang des Tresens eine Messingtrittleiste.
Immer dicht gefolgt von Ali gehe ich um das Haus herum. Das große Holztor ist geschlossen, aber nicht verriegelt. Es führt auf einen gepflasterten Hinterhof, auf dem zahlreiche silberne Fässer, ein Motorrad und zwei Autos stehen, eines davon in grüner Tarnfarbe gestrichen und auf Backsteinen aufgebockt.
Auf der Kühlerhaube sitzt ein etwa fünfzehnjähriger Junge und säubert mit einem öligen Lappen einen Vergaser. Seine abgetragenen Turnschuhe baumeln vor und zurück, und sein Mund bewegt sich unablässig – Worte beißend, kauend, spuckend.
Als er mich entdeckt, zuckt sein Kopf. »LECKEMECKICH!«
»Hallo, Stevie.«
Er rutscht von der Kühlerhaube, packt meine Hand und presst sein Ohr an meine Uhr. »Ticketack, ticketack.«
Das Tourette-Syndrom hat ihn in ein verworrenes Knäuel aus Zuckungen, Flüchen und Schreien verwandelt – »eine menschliche Freakshow«, wie sein Vater Ray Murphy, der ehemalige Hausmeister der Dolphin Mansions, es nennt.
Ich wende mich an Ali. »Das ist Stevie Murphy.«
»S. Murphy. Smurfy. Smurf. Smurf«, bellt er
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