Amnion 2: Verbotenes Wissen
ihrem Sohn, obwohl sie sich nicht sicher war, daß er sie noch hören konnte.
Mit der freien Hand projizierte sie den Stapelbefehl der Selbstvernichtungsschaltung auf einen ihrer Monitoren und fing an, ihn für die Zustandsänderung aufzubereiten.
»Station Potential, hier spricht die Erste Offizierin Mikka Vasaczk. Richten Sie sich auf unser Ablegen ein.«
Eines nach dem anderen. Sorgfältig löschte Morn die Datenreihe, die den Selbstvernichtungsbefehl mit dem Bordchronometer verknüpfte. Nachdem sie den alten Stapelbefehl durch die Neufassung ersetzt hatte, konnte sie endlich den Finger von der Taste nehmen.
Noch einmal durchflutete Erleichterung sie. Ihre künstlich aufgezwungene Tüchtigkeit schien zu verpuffen. Sie hätte jetzt gerne einfach den Kopf auf die Kontrollkonsole gestützt.
Mit einem hörbaren Rumsen sowie einem spürbarem Ruck legte die Käptens Liebchen von der Raumstation ab.
Sofort änderten sich die G-Verhältnisse. Morn saß plötzlich nicht mehr fest im Andrucksessel, also unterbrach sie kurz ihre Tätigkeit und schnallte sich rasch an. Dann setzte sie fort, was sie zu tun hatte.
Mikkas Interkom-Apparat blieb eingeschaltet. »Status des Pulsator-Antriebs?« hörte Morn sie nachfragen.
»Grün, was den Schub angeht.« In Lumpis Stimme klang eine Andeutung der Bangigkeit mit, durch die er noch jünger wirkte, als er ohnehin wenig an Jährchen zählte. »Vector sagt, wir können durchstarten, wann du willst. Er arbeitet noch am Ponton-Antrieb. Die Ersatzteile funktionieren tadellos, nur die Steuerparameter müssen umjustiert werden. Und ein paar Testprogramme klappen anscheinend nicht mehr richtig.«
»Bring uns von hier weg«, wies Mikka den Steueranlagen-Hauptoperator an. »Befolge genau die Abflugsinstruktionen. Die Amnion haben schon überreichlich Gründe, um uns zu mißtrauen. Wir sollten ihnen nicht noch mehr Vorwände geben.«
»Hast du’s mitgekriegt, Morn?« rief Nick. »Deine Zeit läuft ab.«
Er hatte in der Hoffnung, sie quälen zu können, seinen Interkom-Apparat aktiviert belassen.
Erster, schwacher Schub drückte Morn in die Seite des Andrucksessels. Sie verließen Station Potential; entflohen den Amnion. Sie und ihr Sohn. Ganz gleich, was Nick ihr nachträglich antun mochte, im Moment war sie die Siegerin.
Mit einer entschiedenen Willensanstrengung nahm Morn ihre Vorbereitungen für die neue Krise wieder auf, die die bevorstehende Hoch-G-Belastung für sie bedeutete.
Den dafür nötigen Trick hatte sie von Angus gelernt. Nein, ›gelernt‹ war der falsche Ausdruck. Sie hatte mitangesehen, wie er diesen Kunstgriff anwandte; die Resultate am eigenen Leib erlebt; ihn sich in den Dateien, in die er ihr Einblick gewährt hatte, sogar selbst angesehen. Aber sich jetzt daran zu erinnern, genau genug zu erinnern, um ihn nach einigen Monaten, nach soviel seither durchlebtem Leid, nachzuahmen…
Sie mußte sich diese Mühe machen.
Während ihre künstliche geistige Klarheit nachließ und allmählicher Trübung wich, schrieb sie einen neuen Stapelbefehl. Dieses Mal nicht zur Selbstvernichtung, sondern für ihr schwarzes Kästchen.
So wie Angus es getan hatte, installierte sie eine parallele Zonenimplantat-Kontrolle, benutzte dabei die Schaltkreise der zweiten Kommunikationskonsole. Über die Hilfssteuerwarten-Kommandokonsole kopierte sie die Funktionen des Kontrollgeräts der Kommunikation ein; dann steckte sie das Kästchen – vielleicht zum letztenmal – zurück in die Tasche. Anschließend programmierte sie die Parallelkontrolle so, daß sie sie in dem Moment, wenn die Schwerkraft an Bord der Käptens Liebchen 1,5 Ge überschritt, in Schlaf versetzte, und sie weckte, sobald die G-Belastung unter diesen Wert sank.
Schon 1,5 Ge verkörperten ein gewisses Risiko; doch sie mußte davon ausgehen, daß ihr fehlerhaft gestricktes Hirn wenigstens ein bißchen Streß verkraftete. Legte sie die Schlafschwelle zu tief fest, würde sie bewußtlos werden, während noch so niedrige Gravitation herrschte, so daß Nicks Crew etwas gegen sie unternehmen könnte.
Falls die Maßnahme sich bewährte – Morn sich präzis erinnerte, sie richtig ausführte –, hatte sie eine Chance zum Verschlafen der akuten Symptome des Hyperspatium-Syndroms, ohne deswegen zur Aufgabe der Verfügung über den Selbstvernichtungsbefehl gezwungen zu sein. Im Laufe der Beschleunigungsphasen oder Bremsmanöver hatte Nick sich nie bei ihr in der Kabine aufgehalten: Er wußte nicht, wie sie sich schützte.
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