Amnion 3: Ein dunkler, hungriger Gott erwacht
VWB zählte ein höherer Prozentsatz an Transnationalen Terratreuen als bei jedem anderen EKRK-Wählerpotential, ausgenommen in Alteuropa; und die TT erachteten Kapitän Vertigus’ Weigerung, sein Leben künstlich zu verlängern, als Tugend.
Als erster Mensch, der je einen Amnioni erblickt hatte, verkörperte er eine lebende Legende. Bei der Gelegenheit hatte er seine Bereitschaft gezeigt, für seine Überzeugungen in den Tod zu gehen. Zudem verliehen seine unverbrüchliche Unterstützung der VMKP und die ebenso unerschütterliche Opposition gegen die VMK ihm die Aura einer hohen moralischen Autorität. Er galt als ›angesehener älterer Staatsmann‹ des EKRK. »Gäbe es Kapitän Vertigus nicht«, hatte Hashi Lebwohl einmal mit seinem gewohnt zweischneidigen Humor geäußert, »müßten wir ihn uns ausdenken.«
Für einen Mann seines Alters entschwand er trotzdem recht hurtig in die relative Abgesondertheit seines Büros. Als Min ihn einholte und die Tür von innen schloß, saß er schon an seinem Schreibtisch, als hätte er die ganze Zeit hindurch dort gewartet.
Während Min eine Anzahl kompakt konstruierter Anti-Observations-Elektronika aus der Tasche holte, sie rasch den Türen, dem Interkom-Apparat, dem Computerterminal und der Videokamera anmontierte, beobachtete Vertigus sie, die Hände gefaltet auf der Tischplatte aus kristallisiertem Gußharz. Die Haut seiner Hände war derartig durchsichtig, daß Min unwillkürlich meinte, sie könnte nicht nur die Adern, sondern auch die Knochen sehen; die Augen waren so bläßlich, daß es schien, als wäre er blind.
»Können wir uns nun unterhalten?« erkundigte er sich mit hoher, zittriger Stimme, sobald Min die Vorbereitungen beendet hatte.
Sie nickte. »Ich glaube ja. Was das übrige Gebäude angeht, existiert dies Zimmer quasi nicht mehr.« Sie schmunzelte humorlos. »Würden wir uns gegenseitig umbringen, bekäme niemand es mit, bevor jemand die Tür öffnete.«
Kapitän Vertigus lehnte sich in seinem Sessel zurück; mit unsicherer Hand strich er sich eine dünne Haarsträhne aus der Stirn. »In diesem Fall hoffe ich, Direktorin Donner« – wenn Min nicht auf seine Worte lauschte, sondern ausschließlich auf seine Stimme, klang er nach nichts als einem x-beliebigen Invaliden – »es enttäuscht Sie nicht, mich praktisch schon tot anzutreffen. Ich lohne kaum noch die Mühe des Umbringens.«
Anscheinend mißverstand er sie. »Ich bin nicht…«, setzte sie zu einer Klarstellung an.
Er überging ihren Einwurf. »Es lohnt sich nicht einmal noch, im Umgang mit mir all diese Geheimniskrämerei zu betreiben. Wie Sie sehen, habe ich meine Mitarbeiter« – angestrengt hob er die Schultern – »unter verschiedenen Vorwänden wegschicken können. Einem so wichtigen Mann wie dem Konzilsdeputierten des Vereinten Westlichen Blocks hätte so etwas überhaupt nicht möglich sein dürfen. Im Normalfall fängt so jemand, sind seine Leute nicht jederzeit abkömmlich, zu toben an und hat Schaum vorm Maul. Aber leider muß ich Ihnen sagen, es ist ganz einfach gewesen… Ich bin hier nur ein Relikt. Meine Zeit ist vorbei. Könnte man Sie sehen, wie Sie mit mir reden oder mein Büro verlassen, würde dadurch mein Status im Vergleich zum Stand einer beachtlichen Reihe vergangener Jahre spürbar wachsen.«
Einen Moment lang musterte Min seine Gesichtszüge. Fühlte er sich wahrhaftig so überflüssig und ohne Nutzen, müßte es schwierig werden, ihn zum Mitziehen zu bewegen. Plötzlich fragte sich Min, ob sie für diese Aufgabe die richtige war; vermutlich hatte Warden Dios sie ausgesucht, weil er ihr Vertrauen schenkte, und weil sie den Ruf genoß, ihre Pflicht mit der entschiedensten Hingabe zu erfüllen. Daß sie von rein politischen Plänen und Machenschaften unbeeinflußt blieb, mochte ein Eindruck sein, der ihre Glaubhaftigkeit erhöhte. Aber eben weil sie in ihrem Pflichtbewußtsein keine Wankelmütigkeit duldete, konnte sie hinsichtlich ihrer Position gegenüber Kapitän Vertigus keine Gewißheit haben. Für wen beteiligte sie sich an diesem Spiel? Wessen Spiel mochte Warden Dios spielen?
Mit ihrer eingefleischten geschmeidigen Biegsamkeit nahm sie vor dem Schreibtisch des Konzilsdeputierten in einem Sessel Platz. »Wie konnte es soweit kommen, Kapitän Vertigus?« fragte sie, um ihre Unsicherheit zu übertünchen und erst einmal auszuloten, mit wem und was sie es hier zu tun hatte. »Daß Sie, wie Sie es nennen, ein ›Relikt‹ geworden sind?«
»Mir ist ein
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