Amnion 4: Chaos und Ordnung
Schicht feuchten Speichels auf ihrem Kinn. Nur ihre Lippen reagierten, die Mundwinkel zuckten hin und her, als versuchte sie eine Fratze zu schneiden.
Jetzt hätte Warden nicht sagen können, ob sie lachte oder weinte.
Er wartete, bis ihre Miene sich glättete, die Wangen erschlafften. Dann wiederholte er seine Frage in kaum vernehmlichem Flüsterton.
»Norna, weiß er Bescheid?«
»Von mir«, lautete ihre durch Belustigung oder Gram erleichterte Antwort. »Aber er begreift nichts. Er fürchtet sich zu sehr vor dem Tod. Dadurch wird sein Denken verzerrt.«
»Fast alle Menschen fürchten den Tod.« Warden blieb bei seinem Flüstern. »Meistens gelingt es uns, die Furcht zu verdrängen.« Norna stieß ein Zischen der Ungeduld oder Gereiztheit aus. »Bei ihm ist es keine gewöhnliche Todesfurcht. Sie leiden schon so lange unter ihm und haben das noch nicht gemerkt? Von ›Todesfurcht‹ zu reden, wäre in seinem Fall eine gewaltige Untertreibung. Er will ewig leben.« Bitter nickte sie vor sich hin.
»Ja, ewig. Ich seh’s. Was glauben Sie denn, warum er mich hier eingesperrt hat? Seit fünfzig Jahren büße ich für das, was ich sehe. Er ist der Überzeugung, bei den Amnion könnte er die Lösung finden. Er hält sie für genetische Wundertäter. Daß sie seinen Körper retten können, ehe er versagt, verspricht er sich von ihnen. Oder daß sie ihm vielleicht einen neuen Körper geben können. Frieden kann er mit ihnen nicht schließen. Das ließe ihm die Menschheit nicht durchgehen. Zwar sind die Menschen dumm« – sie berief sich wohl auf das, was sich auf den Bildschirmen abspielte –, »aber so dumm nun auch wieder nicht. Aber dürften Sie gegen die Amnion Krieg führen, hätte er keine Aussicht mehr, von ihnen zu erhalten, was er will. Also braucht er diesen Zustand Kalten Kriegs. Wieso ist Davies Hyland« – sie stellte die Frage, als gehörte sie unzweifelhaft zum Thema – »für ihn so wichtig?«
An derselben Frage hatte Warden auch schon ein halbes Dutzend Mal gegrübelt. Unter dem Druck der Einsichten Nornas und der eigenen Notlage zwang er sich abermals zum Überlegen.
»Die Amnion kennen eine Technik, die als ›Schnellwachstumsmethode‹ bezeichnet wird«, konstatierte er leise, sprach seine Gedankengänge aus. »Ich höre schon seit Jahren, daß bei ihnen ein Verfahren gebräuchlich ist, durch das Körper stark beschleunigt heranwachsen. Und allem Anschein nach funktioniert es. Andernfalls wäre Morn Hyland noch schwanger. Sonst hätte sie keinen Jungen, geschweige denn einen erwachsenen Sohn. Aber wie kann er über einen voll herausgebildeten Verstand verfügen?« Das war die entscheidende Frage, der fatale unbekannte Faktor. »Wie haben die Amnion die ganzen Jahre des Lernens und Erfahrungensammelns kompensiert, die ihm fehlen?«
Norna Fasner wandte den Blick nicht von den Monitoren; dennoch fühlte Warden sich zum Weiterreden genötigt.
»Sie müssen ein Mittel kennen, um Verstand artifiziell zu generieren.« Ohne erlernte Fähigkeiten und gesammeltes Wissen konnte der menschliche Organismus nicht adäquat funktionieren. »Oder zu kopieren. Kopieren klingt plausibler. Aber was hat ihnen als Original gedient? Haben sie einen ihrer Spezies als Vorbild genommen? Dann wäre er ein Amnioni, und Josua müßte ihn töten, falls nicht Morn Hyland es täte.« Panikartige Anwandlungen und Erwägungen durchstoben ihn, seine Intuition arbeitete mit Hochdruck. »Sie müssen einen menschlichen Geist in sein Hirn kopiert haben.«
Er brauchte seine Gedankengänge nicht zu Ende zu formulieren; es erübrigte sich, die Schlußfolgerung in Worte zu fassen, zu sagen: Wenn sie so etwas bei Davies Hyland durchführen können, ist es ihnen auch bei Holt Fasner möglich. Norna nickte schon. Ihre Mumienlippen kauten Speichel und Stillschweigen, als bestünde darin das Geheimnis ihrer Orakelhaftigkeit; der Sinn des Lebens.
Geht es wirklich darum? Manipuliert er das EKRK, verheimlicht er das Antimutagen-Immunitätsserum, bindet er mir und meinen Polizisten die Hände, sorgt er für den Fortgang dieses unerklärten Kriegs, verrät er die Menschheit, verdammt noch einmal, nur damit er ewig leben kann?
Lieber Gott, man muß ihm das Handwerk legen!
Gut. Und wie?
Wessen Bewußtsein hatte Davies Hyland?
Warden hatte sich ausschließlich auf Norna Fasner konzentriert und nicht bemerkt, daß ein Betriebsschutzmann die Tür geöffnet, den Kopf hereingesteckt hatte.
»Die Zeit ist um, Sir«, sagte der Mann in
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