Amnion 4: Chaos und Ordnung
erklären. Sein Einfall beruhte auf reiner Intuition war eigentlich nur eine kleine Abwehrgebärde, um sich für all das, was er verspielt hatte, ein wenig zu entschädigen –, und Warden wollte die Konsequenzen seiner Spontaneität gerne tragen. Und doch verhielt es sich so, daß er das Empfinden hatte, nun wieder mit jedem Moment an Kraft zu gewinnen. Während die Betriebsschutzmänner ihn in die maximal abgesicherten Tiefen der Generaldirektion Holt Fasners führten, beruhigte sich Dios’ Herzschlag, beruhigte sich seine Atmung. Weder seine Schritte noch seine Haltung gaben den Wachen nur den winzigsten Hinweis darauf, daß der Drache auf einen Weg verfallen war, um ihm zu rauben, was ihm am meisten bedeutete. Es blieb immer etwas übrig.
Vielleicht war das der Grund, weshalb er nun ein Orakel zu befragen beabsichtigte.
Also folgte er seiner Eskorte zu der hochspezialisierten Klause aus Lebenserhaltungssystemen und Videomonitoren, in der Norna Fasner hauste. An der Tür bedankte er sich und ließ sie stehen. Offenbar hatten sie keine Weisung erhalten, ihn hineinzubegleiten. Ohne Zweifel hatte der Drache jederzeit die Möglichkeit, seine Mutter zu belauschen.
Allein betrat Warden ihr Pflegezimmer und schloß die Tür.
Die Lampen in dem hohen, kahlen Raum waren ausgeschaltet; aber er vermochte Norna im phosphoreszenten Glanz der Bildschirme zu sehen, die vor ihrem Bett und den medizinischen Geräten die gesamte Wand bedeckten. Diese Monitorenwand war alles, was sie hatte, ihre ganze Welt: das Bett fixierte sie, als läge sie auf einer Streckbank, damit die Apparate das heikle, obszöne Werk vollziehen konnten, der eingekerkerten Untoten immerzu neues Leben einzuimpfen. Nur ihre Augen und der Mund bewegten sich; und ihre Finger, die ihr die Bedienung der Beleuchtung sowie der Monitoren erlaubten. In der kalten, herzlosen Helligkeit sah Norna Fasner wie ein verwaistes Gespenst aus. Die Fortschritte der Medizin, die es ihrem Sohn gestatteten, so alt und doch so rüstig zu sein, waren zu spät errungen worden, als daß sie ihr zu mehr als der bloßen Beibehaltung der Existenz verhelfen hätten. Andeutungen der Sterblichkeit vergilbten ihre schrumpelige Haut, so daß sie im Vergleich zum weißen Leinen des Bettzeugs schmuddlig wirkte.
Die Gerätschaften gaben so viele IR-Emissionen ab, daß Wardens prothetische Sicht im Effekt nutzlos blieb. Soweit er es wahrnehmen konnte, hatte Norna keine Aura; womöglich kannte sie keine Emotionen mehr; vielleicht war ihr Verstand längst erloschen. Allerdings hatte Fasner ihm im Verlauf der Jahre wiederholt beteuert, sie sei bei vollem Bewußtsein; nicht nur wach, sondern hätte noch einen äußerst scharfen, aktiven Geist. »Wissen Sie, ich bin’s, durch den sie lebt«, hatte Fasner bei einer Gelegenheit gegenüber Warden geäußert. »Ich meine nicht, daß es auf meine Weisung geschieht, oder dank der Ärzte. Nein, ich meine, durch mich selbst. Ich spende ihr Leben. Haßte sie mich nicht viel zu sehr, um zu sterben, würde sie erlöschen wie eine Kerze. Sie lebt für die Hoffnung, irgendwann noch meinen Untergang mitansehen zu dürfen. Und daß sie ihn vielleicht, nur vielleicht, kommen sieht.«
Bei diesen Worten hatte der Drache gelacht. Anscheinend fand er diese Vorstellung komisch.
Warden Dios dachte darüber anders.
Aber damals wie heute verschwieg er seine Ansicht. Er besuchte Norna nicht aus Mitleid für die Frau, von der Holt Fasner seine Habgier mit der Muttermilch eingesaugt hatte. Außerdem standen ihm lediglich zehn Minuten zur Verfügung. Falls Norna ihm innerhalb dieser Frist keine Auskunft gab, war der Besuch nichts als Zeitverschwendung.
Trotzdem verharrte Warden erst einmal hinter der Schwelle; ihm stockte einfach der Schritt. Schon anfangs hatte Fasner ihm von den Bildschirmen erzählt; doch Warden war nie klar gewesen, wie allesbeherrschend und einschüchternd ihre gehäufte Präsenz sein mußte. Mindestens zwanzig waren es, alle eingeschaltet, allesamt zeigten sie gleichzeitig und pausenlos eine Bilderflut, ausnahmslos und unentwegt jaulten und schnatterten sie; und doch waren sie vollzählig tot, hatten keine menschlichen IR-Emanationen, entbehrten jeglichen Lebens. Starr und reglos wie Norna Fasner wetteiferten die Videoschirme mit Nachrichtenmagazinen und Sexattraktionen, Sportsendungen und Fernsehfilmen um Wardens ausschließliche Aufmerksamkeit; Stimmen stritten quer durchs gesamte Spektrum des Hörbaren gegen Hintergrundmusik und
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